Dr. Ulrike Tagscherer im Interview

»Innovation, Nachhaltigkeit und Digitalisierung gehören zusammen«

Dr. Ulrike Tagscherer, Chief Innovation Officer bei KUKA
Dr. Ulrike Tagscherer, Chief Innovation Officer bei KUKA.

Viele Ideen klingen erst einmal gut. Der international aufgestellte Roboter- und Automatisierungsspezialist KUKA investiert viel Energie, um zu prüfen, welche Innovationen schlussendlich umgesetzt werden. Dr. Ulrike Tagscherer verantwortet als Chief Innovation Officer bei KUKA diesen Prozess. Dass es um viel mehr als neue Produkte geht, und was Nachhaltigkeit, Personalentwicklung und Digitalisierung mit Innovation zu tun haben, erklärt die promovierte Geografin in unserem Interview.


Schon während des Studiums und der Promotion in Heidelberg ist China ein Schwerpunkt ihres Interesses. Darüber hinaus engagiert sich Dr. Ulrike Tagscherer für die Themen Leadership, Nachhaltigkeit und Diversität. Sie ist im Beirat der Wissenschaftsstatistik gGmbH des Stifterverbands sowie Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Internationales von acatech. 2024 wurde sie von der International Federation of Robotics (IFR) als eine von zehn Frauen ausgezeichnet, die die Zukunft der Robotik mitgestalten.


Dr. Ulrike Tagscherer kam 2000 in die Zentrale der Fraunhofer-Gesellschaft und war dort unter anderem für das Business Development für gesamt Asien verantwortlich. Nach einem Wechsel ans Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI ging es von dort aus an ein Fraunhofer-ISI-Partnerinstitut an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking. Sieben Jahre arbeitete sie als Expertin für chinesische Innovationssysteme. Hinzu kamen Industrieprojekte in der Automobil- und Pharmabranche in China. 2015 ging es zurück in die Zentrale nach München. Dort trieb sie für zwei Jahre zuletzt als stellvertretende Abteilungsleitung das Thema Business Modell Innovation voran. 2017 erfolgte der Wechsel zum Augsburger Roboter- und Automatisierungsanbieter KUKA, wo sie heute als Chief Innovation Officer tätig ist.



Technische Innovation ist ein kreativer Prozess. Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um Innovation in einer Organisation umzusetzen?

 

Unterstützung durch das Management ist mindestens ebenso wichtig wie Governance, ein Regel-Set, das genau definiert, wie wir mit Ideen spielen. Eine meiner ersten Handlungen bei KUKA war, auch wenn ich das gerne anders gehabt hätte, ein großes und wirklich spannendes Projekt zu beenden. Wir setzten einen Workshop auf und befragten Nutzer. Dank des strukturierten und systematischen Vorgehens lagen Fakten vor und es gab nicht mehr nur das Team, das von der Idee überzeugt war. Auf Basis unserer Daten stoppte das Management das Projekt. Seitdem haben wir einen regelbasierten Innovationsprozess im Unternehmen. Es wird jedoch nicht im Alleingang über eine Idee entschieden, sondern es sind sämtliche Group-CEOs und Geschäftsführer beteiligt.

 

Neuerungen in komplexen Unternehmen umzusetzen, ist sicherlich nicht immer einfach. Gleichzeitig muss man auf geänderte Rahmenbedingungen reagieren.

 

Unternehmen wachsen, weil sie »delivern«, also möglichst effizient Produkte auf den Markt bringen. Die Organisation ist auf Effizienz ausgerichtet, wie eine gut geölte Maschine. Um als Unternehmen resilient zu sein, braucht es parallel dazu einen Raum, in dem Neugeschäft systematisch verprobt werden kann. Das alles muss schnell und mit wenig Kosten verbunden sein. In diesem Raum müssen dann auch andere KPIs, andere Governance-Regeln und andere Entscheidungen gelten. Einen Business Plan braucht es hier anfangs definitiv noch nicht.

 

Wie sieht das in Ihrem Unternehmen aus?

 

Jährlich veranstalten wir im gesamten Unternehmen eine Innovation Challenge, immer mit von der Geschäftsführung strategisch festgelegten Themengebieten. Auf einer digitalen Plattform können Ideen eingestellt werden. Eine Vielzahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen beurteilt die Ideen nach bestimmten Kriterien.

 

Die vorliegenden Ideen werden von unterschiedlichen, unternehmensweit ausgewählten Mitarbeitenden evaluiert. Hauptkriterien dafür sind der strategische Fit, das geschätzte Geschäftspotential sowie die Teamzusammensetzung.

 

Aus den Gewinnerideen werden dann erste Innovationsprojekte. Auch hier legen wir großen Wert auf Diversität und Internationalität. Sobald die Auswahl der Gewinnerteams und -ideen feststeht, geht es ans Machen: Die Teams arbeiten zunächst für drei Monate jeweils drei Tage pro Woche daran herauszufinden, ob sie das Kundenproblem richtig verstanden haben.

 

Aber diese Vorhaben sind noch nicht produktiv im Unternehmen?

 

Wir führen diesen Prozess jetzt das sechste Mal durch und haben so rund 900 Ideen gesammelt. Davon haben wir »nur« 24 gestartet. Drei von unseren Projekten haben wir inzwischen ins Business überführt. Eine gesunde Stopp-Rate, die sich auf gestartete Projekte bezieht, liegt bei etwa 90 Prozent, also bei zehn Projekten erwarten wir, eines ins Portfolio des Unternehmens überführen zu können. Dementsprechend ist der Prozess aufgesetzt: Zum Start sehen die Ideen alle großartig aus, und durch systematische Reduzierung des Innovationsrisikos versuchen wir, die neuen Geschäftsfelder zu identifizieren, in die wir tatsächlich investieren sollten.

 

Welche Kriterien bewerten Sie konkret?

 

Für eine Innovation müssen drei Punkte gegeben sein: Desirability – Feasibility – Viability. Desirability heißt, braucht der Kunde das? Lösen wir ein Problem, das so wichtig ist, dass die Kunden an unseren Toren Schlagen stehen würden? Feasability meint die Machbarkeit. Dabei geht es um mehr als nur die technische Machbarkeit. Haben wir die richtigen Kompetenzen bei uns, haben wir ausreichend Investitionsmittel usw. Bei der Viability fragen wir uns, sollten wir das tun? Passt das in unsere Strategie und können wir damit Geld verdienen?

 

Innovation bedeutet dann aber auch, sich von vielen Projekten zu verabschieden?

 

In der Tat: Wir hatten beispielsweise ein sehr weit fortgeschrittenes Projekt aus der Krankenhausautomatisierung, bei dem wir feststellten, dass Pflegeeinrichtungen trotz Bedarfs die Kosten nicht bezahlt hätten. Schlussendlich wäre es keine lohnenswerte Investition gewesen. Das ist – vor allem für die Teams, die an ihre Idee glauben – sehr schmerzlich. Im Corporate-Bereich ist es jedoch wichtig, auch bei hohen »Sunk Costs«, nicht an Ideen festzuhalten, für die man Beweise hat, dass sie keinen Gewinn bringen.

 

Für jede Innovation gibt es ein Window of Opportunity. Man kann zu früh, aber auch zu spät sein. Sobald wir Bedarf sehen, können wir dank unserer Plattform ein Thema wieder in die Hand nehmen. Die Teams berichten dort aus ihrer Perspektive über Fortschritte, Entwicklungen, Gespräche, was funktioniert hat und darüber, was zum Stopp eines Projektes geführt hat.

 

Ein weiteres Thema von Ihnen ist Leadership.

 

Ja, das Thema Leadership ist mir sehr wichtig. Personen, die in einem Innovationsprojekt mitarbeiten, müssen ihre Komfortzone immer wieder verlassen. Sie entwickeln sich in einem solchen Projekt oft persönlich so sehr, dass sie danach andere Aufgaben im Unternehmen übernehmen können. Man trägt viel Verantwortung, erfährt großartige persönliche Entwicklungschancen und beweist, dass man Themen voranbringen kann. Die Teams entscheiden eigenständig, und weil sie etwas Neues machen, gibt es im gesamten Unternehmen niemanden, der oder die es besser wissen kann. Inzwischen kommen unsere Innovatorinnen und Innovatoren immer wieder in unser globales Talent-Programm. Das Thema Innovation hat also auch viel mit Personalentwicklung zu tun. Meine Rolle dabei ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass den Mitarbeitenden dieses Wachstum auch ermöglicht wird. Ich verstehe mich hier aus Überzeugung als dienende Führungskraft.

 

Sie waren lange bei Fraunhofer. Was ist von dieser Zeit bei Ihnen hängengeblieben?

 

Es ist vor allem das Finanzierungsmodell und die Erfahrung, dass Projekte nicht voll durchfinanziert werden sollten. Davon habe ich mir auch für KUKA was abgeschaut. Zusammen mit dem Management mit Profit-and-Loss-Verantwortung entscheiden wir im Rahmen unserer Governance, welche Projekte Zeit und Geld erhalten. Für drei Monate, in denen wir uns das Kundenbedürfnis, den Problem-Solution-Fit ansehen, und weitere sechs Monaten, in denen wir den Product-Market-Fit betrachten, also ob wir es auch umsetzen können, bekommen die Teams Mittel und Unterstützung etwa in Form von Trainings aus meiner Abteilung. Die Personalkosten müssen die Segmente jedoch von Anfang an selbst tragen.  

Bevor wir ein Produkt in die Serienentwicklung bringen, bilden wir ein virtuelles Start-up, das einen Business Owner benötigt. Eine Abteilung muss so von dieser Idee überzeugt sein, dass sie das Projekt haben möchte, im Gegenzug übernimmt diese die Finanzierung. Ganz ähnlich zu den Industriekunden bei Fraunhofer. Es ist wichtig, dass auch im Unternehmen eine Führungskraft existiert, die die Finanzierung übernimmt, weil sie davon überzeugt ist, dass es den Kunden einen Mehrwert bringt

 

Mit Sustainability engagieren Sie sich für ein weiteres wichtiges Thema?

 

Für viele unserer Probleme, also auch für »Save the Planet«, benötigen wir Daten. Wie groß ist mein CO2-Fußabdruck? Wo stehe ich, wo steht meine Supply Chain? Da reicht kein Excel Sheet, sondern man benötigt eine digitalisierte Umgebung. Die Probleme, die wir haben, können wir nicht auf die gleiche Weise lösen, wie wir sie erzeugt haben, soll Albert Einstein gesagt haben. Wir werden also neue Innovationen, neue Lösungen benötigen. Die Themen Innovation, Digitalisierung und Nachhaltigkeit gehören daher für mich fest zusammen.

 

Wir prüfen bei jeder Innovation, ob und wie eine Innovation auf Sustainability einzahlt und beschäftigen uns intensiv damit, den CO2-Fußabdruck unserer Entwicklungen zu reduzieren. Bis wir über die gesamte Lieferkette hinweg auf sämtliche Umweltdaten zugreifen können, ist es noch ein weiter Weg. Je kleiner die Zulieferer, desto schwieriger wird es. Selbst auf dem Shop Floor, also in den Produktionsstätten, werden viele Daten nicht genutzt, da in diesen komplexen Anlagen nicht alle Bausteine miteinander sprechen können.

 

Wie wichtig halten Sie Projekt wie Gaia-X oder Catena-X, die auch in Teilen von der Fraunhofer-Gesellschaft betrieben werden?

 

Beim Start von Catena-X war ich für das Business-Modell verantwortlich. Ich freue mich sehr, dass dieses Projekt noch existiert. Es ist hilfreich, dass Fraunhofer als neutraler Partner im Lead war. Für Unternehmen ist es sehr schwer, sich in diesem Punkt anzunähern. Datensouveränität ist ein sensibles Thema mit vielen offenen Fragen.

 

Jetzt sind wir wieder bei Fraunhofer angelangt. Was haben Sie für sich und Ihr Arbeitsleben von Fraunhofer mitgenommen?

 

Auf persönlicher Ebene habe ich viel über den Diskurs der Menschen miteinander gelernt. Bei Fraunhofer haben wir das immer sehr positiv gehandhabt. Man hat auf der einen Seite starke Persönlichkeiten, die zu 100 Prozent überzeugt sind, das »Next Big Thing« zu entwickeln. Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben aber vollständig konträre Meinungen dazu. Beide legen die Argumente fundiert da und man streitet trefflich über Sachthemen, ohne dass es auf der menschlichen Ebene zum Problem wird. Das hat mich sehr geprägt. Jemand hat das mal als »hart in der Sache, weich zu den Menschen« umschrieben. Dank dieser Erfahrung kann ich vormittags ein Projekt stoppen und nachmittags mit dem gleichen Team einen Kaffee trinken.  

 

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Tagscherer.