Eine Professur für ‘Digitales Engineering 4.0’ an der Technischen Universität Berlin und dem Einstein Center Digital Future, Mitglied im Digitalrat des Verteidigungsministeriums und als eine der wichtigsten Expertinnen für Systems Engineering tritt sie auf zahlreichen Konferenzen als Sprecherin auf: Professor Dr. Lydia Kaiser absolviert ein sehr dichtes berufliches Programm. Dennoch schafft es die dreifache Mutter für ihre Kinder da zu sein. In dieser Doppelrolle kämpft sie dafür, dass sich »Frauen die Frage nach der Vereinbarkeit« nicht mehr stellen müssen. Für dieses Engagement wurde die Wissenschaftlerin und Fraunhofer-IEM-Alumna 2022 mit dem Felicitas Award in der Kategorie »Vorbild sein. #InspireAsRolemodel« geehrt. Sie ist nach Mai Thi Nguyen-Kim im Jahr 2021 damit die zweite Fraunhofer-Alumna, die diese Auszeichnung gewann. Das freut uns ganz besonders.
Sehr geehrte Frau Kaiser, sie absolvieren beruflich ein beeindruckendes Pensum und machen sich für eine familienfreundlichere Berufswelt stark. Wie meistern Sie ihren Alltag?
Mein wissenschaftliches Thema ist das systemische Denken. Das hilft, mein familiäres Umfeld, meinen Beruf als Ganzes zu verstehen: Was sind meine Ziele? Wie kann ich diese erreichen? Wie kann ich beiden Ansprüchen Genüge tun?
Kürzlich wurde ich von der Frage überrascht, Sie sind ja heute hier unterwegs, sind Ihre drei Kinder allein? Natürlich sind sie das nicht! Sie haben einen liebevollen Vater und liebevolle Großeltern. Sowohl für meine Kinder wie auch für Oma und Opa ist es sehr wertvoll, wenn Sie gemeinsam Zeit verbringen können. Natürlich bin ich häufig beschäftigt oder unterwegs. Zeit, die ich mit meinen Kindern verbringe, muss daher hochqualitativ sein. Ich nehme mir sehr bewusst Zeit und erledige nicht parallel irgendwelche anfallenden Aufgaben. Und wenn doch, dann gemeinsam mit meinen Kindern. Trotz dieser vielfältigen Aufgaben bin ich ausgeglichener, wenn ich ausleben kann, was mich inhaltlich bewegt.
Wir erreichen Sie heute per Video-Call im Homeoffice. Welche Chancen sehen Sie in digitalen Werkzeugen?
Natürlich haben wir dadurch neue Möglichkeiten und einen höheren Grad der Teilhabe, der Sichtbarkeit und der Flexibilität. Eine Kollegin aus dem Fraunhofer-Umfeld berichtete mir, dass sie dank solcher Tools an Konferenzen teilnehmen kann und so als Expertin wahrgenommen wird. Ohne diese Möglichkeiten wäre eine Wissenschaftlerin wie Sie ein Stück weit ausgeschlossen, weil mit Kindern und Familie solche Engagements organisatorisch nicht umzusetzen sind.
Auf der anderen Seite sorgen virtuelle Meetings für zusätzlichen Organisationsaufwand: Es stellen sich Fragen wie: ‘bin ich vor Ort? ’, ‘nehme ich virtuell teil? ’, ‘wie ist die Internetverbindung? ’ Persönlich genieße ich den Luxus der Kinderbetreuung durch Angehörige und kann meine Aufmerksamkeit Inhalten widmen. Auch aus eigener Erfahrung kenne ich Situationen, bei denen man gedanklich nicht zu 100 Prozent bei der Sache ist, etwa weil ein Kind gerade etwas braucht. Trotz Home-Office und anderen digitalen Tools kann sich so für Frauen eine Doppelbelastung ergeben: Man kann an einer Konferenz teilnehmen, muss aber gleichzeitig die Betreuung stemmen.
Eingangs erklärten Sie, auch privat von der Expertise ihres Fachbereichs zu profitieren. Was versteht man unter »Systems Engineering«?
Wir beschäftigen uns mit technischen Systemen oder Produkten. Das tun wir systematisch, also in einer bestimmten Abfolge aber auch systemisch. Systemisch bedeutet in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise und das umfasst alle Stakeholder, alle Sichten. Wir betrachten nicht nur die Nutzungsphase, sondern auch wie das Produkt am Ende recycelt wird. Damit Punkte wie Kosten und Sicherheit, die Produkte heute komplex machen, nicht in einem nachgelagerten Prozess eingearbeitet werden müssen, denken wir solche Aspekte frühzeitig im Design. Während der Konzeptionierungsphase werden in der Regel 70 Prozent der Kosten festgelegt. Tatsächlich entstehen solche Kosten jedoch erst gegen Ende eines Projektes. Wir treffen also in sehr frühen Stadien Entscheidungen, die große Auswirkungen haben. Dafür nutzen wir digitale Technologien, um Dinge oder Konzepte zu visualisieren. Ohne digitale Tools kann man das erst zu einem späteren Zeitpunkt mit Hardware umsetzen. Digitalisierung unterstützt uns zudem in der Gestaltung von Produkten.