Forschen & Kochen

Wie wäre eine Welt ohne Geruch?

Corona hat gezeigt, wie gefährdet unsere Sinne sind. Zwei Fachleute aus Theorie und Praxis treffen sich zum Gespräch über Duft und Aroma – und über Genuss.

Prof. Andrea Büttner, Lebensmittelchemikerin und Aromaforscherin, leitet seit 2019 das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV und Tohru Nakamura in seinem »Salon Rouge« in der Münchner Altstadt.
© Fraunhofer / Michela Morosini
Prof. Dr. Andrea Büttner und Tohru Nakamura in seinem »Salon Rouge« in der Münchner Altstadt.

Wie wäre eine Welt ohne Geruch?

Büttner: Schrecklich! Einmal hatte ich durch eine Infektion den Geruchssinn verloren – ich war panisch! Herr Nakamura, Sie als Koch sind wahr­scheinlich genauso ängstlich, wenn es um Ihr ol­faktorisches Epithel geht.

Nakamura: Absolut. Anfang vergangenen Jahres war da eine Woche lang nichts – glücklicherweise blieb der Corona-Test negativ. Für meinen Beruf ist das, wie wenn sich ein Skifahrer das Bein bricht. Aber auch für den Gast ist Genuss ohne Geruch kein Genuss mehr. Die Sinnlichkeit geht verloren. Es geht auch das Erinnerungsbewusstsein verloren. Wir haben ja so viele Gerüche verknüpft mit unse­rem Unterbewusstsein!

Was ist der erste Geruch Ihrer Kindheit, an den Sie sich erinnern?

Nakamura: Der Duft von Nabe, diesem japanischen Eintopf. Mit Dashi, der klassischen Brühe aus Kom­bualge und Bonito, Gemüse und Tofu darin, das leichte Sojabohnen-Aroma – all das köchelt in der Tischmitte, dazu der Holzfeuergeruch von unse­rem kleinen Kamin: Die Nase stößt bei so ziemlich jedem Menschen Erinnerungen an. Wir bauen uns unsere Welt um sie herum auf. Alles Wichtige im Leben wird begleitet von Riechen, Essen und Trin­ken. Feiertage ohne diese direkte Verknüpfung sind in unseren Köpfen nicht so präsent. Christi Him­melfahrt? Erinnere ich nicht. Aber Weihnachten? Klar. Martinsgans? Ebenso.

 

Frau Büttner, in welche Kindheit führt Ihre Nase Sie zurück?

Büttner: Mein Papa war Schreiner, sogar etwas be­rühmt – er hatte für den Pumuckl das Bett und die Schiffschaukel gebaut. Ich habe in den Sägespänen gespielt. Mein Kinderzimmer war aus Zirbenholz. Dieser Geruch ist für mich bis heute unglaublich. In meinem Fraunhofer-Institut analysieren wir übrigens gerade Holzgerüche. Es ist erstaunlich, wie wenig wir darüber wissen. Ständig entdecken wir neue Geruchsstoffe, die die Welt noch nicht kennt. Das macht dann richtig Freude, wenn das syntheti­siert ist – und plötzlich stehen Sie in einer Geruchs­wolke, die vor Ihnen noch kein Mensch erlebt hat.

Etwa 15 Prozent der Menschen haben kei­nen – oder einen sehr eingeschränkten – Geruchs­sinn. Wie viele sind Geschmackslegastheniker?

Büttner: Viele, erschreckend viele. Da geht es ja nicht allein um die Gefahr durch Corona. Auch an­dere Infektionen bedrohen Geruch und Geschmack: Alzheimer, Parkinson, neuro-degenerative Erkran­kungen, dazu einfach das Altern – die Quote ist erstaunlich hoch. In unserem Institut untersuchen wir daher nicht nur Aromen, wir analysieren auch Menschen. Wir nehmen einzelne Aromastoffe und testen die Varianz. Sie wären schockiert, wenn Sie sehen würden, wie unterschiedlich empfindlich Menschen in ihren Geruchsschwellen sind, die lie­gen mitunter in Zehnerpotenzen auseinander.

Nakamura: Wenn ich für 30 Gäste koche, dann empfinden das 30 Gäste unterschiedlich. Und trotz­dem schaffen wir Abend für Abend in unserem Restaurant einen Grundkonsens – und ein kulina­risches Glückserlebnis.

Büttner: Faszinierend.

Nakamura: Aber die Frage bleibt – wie können wir das noch zuverlässiger lenken? Was von unseren Anstrengungen hinter den Kulissen bekommt der Gast überhaupt mit: im Geschmack, optisch, akus­tisch? Wie knusprig sollen Dinge sein? Wie sollen sie sich beim Essen anhören? Wir haben so viele Variablen, so viele Unbekannte!

  • www.campus-der-sinne.fraunhofer.de (campus-der-sinne.fraunhofer.de)
  • Tisch der Kostbarkeiten: Aroma-Beispiele, die Meisterkoch Nakamura fürs Riechen und Schmecken besonders wichtig sind.
    © Fraunhofer / Michela Morosini
    Tisch der Kostbarkeiten: Aroma-Beispiele, die Meisterkoch Nakamura fürs Riechen und Schmecken besonders wichtig sind.

    Was glauben Sie, von der Forschung, von Frau Büttner lernen zu können?

    Nakamura: Sehr viel. Unsere Art von Gastronomie lebt ja von Konstanz. Es ist unglaublich wichtig, dass wir das Sinnliche, dass wir das Emotionale, dass wir die Glücksmomente für unsere Gäste nicht nur schaffen, sondern auch reproduzieren können. Da stellt sich ganz klar die Frage: Mit welchen mul­tisensorischen Einflüssen können wir arbeiten, damit der Gast sich noch wohler fühlt und eine noch positivere Erinnerung nachhaltig abspeichert. Der Duft des Raumes, der Duft der Speisen – ich glaube, dass wir in der Gastronomie da noch ganz am Anfang stehen. Ich bin mir sicher, dass wir in der Sterne-Küche von der Wissenschaft noch viel lernen können.

    Büttner: Willkommen bei Fraunhofer! Genau sol­che Fragen treiben mich gerade um: Wie realisieren wir nach Corona die sichere und genussreiche Gas­tronomie? Da wird sich nicht nur das Raumklima der Zukunft ändern müssen. Dazu gehören Klimati­sierung und Luftumwälzung, Aeorosolausbreitung, proaktive Hygiene, Desinfektion und Dekontami­nation, Gerüche und Oberflächenbeschaffenheit von Innenausstattung, Küchenutensilien und Dar­reichungsformen wie Geschirr, Gläser, Anrichten und vieles mehr in der Wechselwirkung. Wie aber beeinflusst das unser sinnliches Empfinden? Ich glaube nicht, dass man auch nur die ideale Tempe­ratur für den vollkommenen Genuss spezifischer Gerichte schon vollständig versteht. In unserem Team arbeiten für solche Fragen auch Psychologen, Neurowissenschaftler – verschiedenste Disziplinen. Und viele verbindet das Kernthema multisensori­sche Integrationsprozesse.

    Herr Nakamura, wenn Genuss in Moleküle zerlegt wird und Geruch in Einzelkomponenten zerfällt, zerstört das für Sie den Zauber?

    Nakamura: Ganz im Gegenteil – genau da wird es doch spannend für uns in der Gastronomie. Auch wir müssen ja verstehen und erklären, was wir tun und wie wir den Gast möglichst intensiv erreichen. Bei aller technischen Betrachtung bleibt ja doch am Ende die Emotion – auch wenn ich weiß, dass es nur Moleküle sind, wird man schlussendlich immer diesen Zauber empfinden.

    Frau Büttner, Sie arbeiten daran, die Grenzen der technischen Sensorik zu verschieben.

    Büttner: Und nicht nur die … Der Mensch ist ein multisensorisches System mit all seinen Stärken und Schwächen. Analog entwickeln wir auch die technischen Systeme multisensorisch. Dabei ist aber elementar, dass wir sowohl die Schwächen des Menschen wie auch der technischen Systeme kennen. Allein einen Riechsensor zu bauen, ist in den allermeisten Fällen nicht sinnvoll. Manchmal muss man sich auch Tricks ausdenken. Ein Beispiel: Beim Schokoladeconchieren wollen immer alle den perfekten Zeitpunkt treffen, an dem saure und un­angenehm adstringierende Noten sich verlieren, aber die erwünschten Aromastoffe erhalten blei­ben oder sich intensivieren und sich die optimale Balance aus Bitterkeit, Süße und Mundgefühl ein­stellt. Mancher wünscht sich da die elektronische Nase, die das Optimum zuverlässig bestimmt. Dabei kann es viel praktikabler sein, die Masse beim Con­chieren zu beobachten und mit einem optischen oder mechanischen Sensor abzulesen, wann der Zeitpunkt erreicht ist. Und auch wenn viele das Pro­blem gern mit künstlicher Intelligenz lösen wollen, braucht es vor allem menschlichen Verstand, das Verständnis der zugrunde liegenden Prozesse und davon, was am meisten »Sinn« hat.

    Frau Büttner, Sie entwickeln neue Lebens­mittel und suchen nach Alternativen zum Fleisch. Aufgewachsen sind Sie in Münchens Maxvorstadt. Welches Verhältnis haben Sie zum Schweinebraten?

    Büttner: Ich liebe ihn! Allerdings muss er eine per­fekte Kruste haben. Wenn schon Fleisch, dann ein richtig gutes! Und natürlich richtig gute Knödel.

    Herr Nakamura, können Sie sich Ihre Küche ohne Fleisch vorstellen?

    Nakamura: In meiner Küche legen wir den glei­chen Qualitätsmaßstab an eine Rote Bete wie an ein Rinderfilet – grundsätzlich also: ja. Ohne Fisch wäre schwieriger. Ohne Milchprodukte wäre schon sehr, sehr schwierig. Und ohne Ei? Das nimmt ein­fach eine monumentale Rolle in der Küche ein. Privat übrigens esse ich sehr wenig Fleisch. Deshalb tue ich mich auch schwer mit der Idee, unbedingt Fleisch aus pflanzlichen Rohstoffen nachbauen zu wollen. Dieser vegetarische Hackfleischburger …

    … ist Teufelswerk für Sie?

    Nakamura: Zumindest übersteigt er im Moment mein kulinarisches Vorstellungsvermögen. Aber ich gebe zu: Auch ein Smartphone hätte ich mir vor 20 Jahren nicht vorstellen können.

    Sie glauben also an eine technische Ent­wicklung in der Ernährung?

    Nakamura: Nahrung aus Insekten finde ich sehr spannend, weil dieser Eiweißlieferant viele Proble­me der Menschheit lösen könnte. Vielleicht müssen wir da nur eine Generation überspringen. So ganz rational sind wir da ja nicht: Warum geben wir für einen Hummer so viel Geld aus, während eine Heu­schrecke bei vielen nur Abscheu hervorruft?

    Büttner: Also wir haben gerade Kerbse als neues Projekt. Das ist ein Camembert aus Erbsenprotein.

    Herr Nakamura, ich sehe, Sie zucken doch leicht zusammen!

    Nakamura: Als Koch greife ich einfach am liebs­ten zu den natürlichsten, den handwerklichsten Produkten, da stehe ich gerne im Kontakt mit den Produzenten in der Landwirtschaft, die mit ihrer Leidenschaftlichkeit und Wertschätzung die Dinge schaffen, die uns überzeugen. Der Erbsen-Camem­bert klingt eher wie Malen nach Zahlen.

    Büttner: Sie sollten das nicht als Verdrängung se­hen. Wir wollen einfach zusätzliche Nahrungsquel­len erschließen.

    Nakamura: Da haben Sie recht. Wir müssen dif­ferenzieren zwischen einer Genussküche und der Alltagsernährung, bei der wir oft unbewusst so viel Fleisch und tierische Produkte zu uns nehmen.

    Da machen Sie mich neugierig, Herr Nakamura. 2013 der erste Stern, 2016 zwei Sterne, zweimal »Koch des Jahres«, seit 2020 »Botschafter der japanischen Küche«: Was kocht dieser Mann im Alltag, wenn er daheim in seiner Küche am Herd steht?

    Nakamura: Zunächst einmal – ich koche sehr ger­ne, auch zu Hause und in meiner Freizeit. Einmal die Woche brauche ich klassisch gekochten japani­schen Reis fürs Gleichgewicht, sonst kommen mein Yin und Yang in Unordnung. Dazu sehr viel Gemü­se. Es ist ja leichter, gutes Gemüse zu bekommen als gutes Fleisch oder guten Fisch.

    Und haben Sie einen Tipp, wenn es ganz schnell gehen muss?

    Nakamura: Rösten Sie Brot, schieben Sie einen Va­cherin in den Ofen, dazu ein Salat – schon haben Sie ein tolles Gericht. Ach, bei der Gelegenheit, Frau Büttner, sehen Sie einen Weg, wie sich das Aroma von Tomatenrispen auf die Frucht übertragen lässt? Sie wissen ja, die sind giftig, aber der Duft …

    Büttner: Eine Mitarbeiterin an unserem Institut hat gerade analysiert, dass Tomaten geschmacks­intensiver bleiben, wenn sie an den Rispen in den Handel kommen. Ich bin mir sicher, wir finden auch auf Ihre Frage eine Antwort.

    Frau Büttner, Herr Nakamura, vielen Dank für das Gespräch. Ich sehe, hier entwickelt sich zwischen Praxis und Theorie des Genusses gerade der dritte Michelin-Stern für Herrn Nakamura.