Er hat es in die »Internet Hall of Fame« geschafft und natürlich darf er auch bei den Fraunhofer-Alumni nicht fehlen: Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. nat. h.c. mult. Karlheinz Brandenburg ist einer der Erfinder des Dateiformats mp3, die wohl wichtigste Entwicklung für die Musikindustrie seit der Schallplatte. Vor über einem Jahr gab er die Leitung des Fraunhofer IDMT ab, um sich – wie er selbst sagt – in den Unruhestand zu begeben. Er ist nicht nur Senior Professor der TU Ilmenau, sondern entwickelt derzeit mit großem Engagement als CEO der von ihm gegründeten Brandenburg Labs das »nächste große Ding«: PARty ist sozusagen das akustische Pendant zu virtueller Realität. Es soll dem Hörer eine perfekte auditorische Illusion vermitteln und zudem als akustische Lupe oder Filter funktionieren – also gezieltes Weg- oder Hinhören ermöglichen. Die Anwendungsmöglichkeiten sind vielfältig, bis zur Marktreife aber ist es noch weit. Die Forscherinnen und Forscher stehen vor zahlreichen Herausforderungen, wovon sich der Investor und Forscher Brandenburg nicht abschrecken lässt. Wie bei der Entwicklung von mp3 ist auch hier bei diesem neuen Projekt ein vergleichsweise kleines, gut aufeinander eingespieltes Team am Werk.
Sie haben für die Digitalisierung der Musik einen großen Beitrag geleistet. Doch seit einigen Jahren blüht entgegen aller Prognosen die mehrfach totgesagte LP in einer Nische. Herr Brandenburg, wann haben Sie zum letzten Mal eine Schallplatte gehört?
Vinyl? Das liegt bestimmt mehr als 25 Jahre zurück. Wir haben am Fraunhofer IIS zu viel in diesem Bereich geforscht, als dass ich noch für vermeintliche Vorzüge empfänglich wäre. Das sind alles psychologische Faktoren, die mit der Klangqualität nichts zu tun haben. Die Schallplatte ist aufgrund der Nebengeräusche für den Menschen erkennbar und das sorgt zusammen mit Haptik, Optik und anderen Faktoren für ein gutes Gefühl. Wer das mag, zieht die Vinyl-Platte vor, ich nicht.
Aber sind nicht gerade psychologische Faktoren für das Hören von Musik sehr wichtig?
Was wir an der Stelle sicher sagen können: Hören beruht ganz wesentlich auf Erwartungen. Dem kann man sich auch nicht bewusst entziehen. Unser Gehirn ist hier ein hervorragender Pattern-Matcher. Das Ohr gleicht ständig mit Erlebtem oder Gehörtem ab. Neben der Erinnerung beeinflussen aber auch Faktoren wie die aktuelle Umgebung oder Eindrücke unsere Wahrnehmung. Also: Wir bewerten die Varianten nach persönlichem Geschmack.
Bleiben wir bei der Wahrnehmung. Sie haben »Tom‘s Diner« vermutlich so oft gehört wie kein Zweiter. Warum war gerade dieser Song von Suzanne Vega so eine große Herausforderung?
Das Format mp3 nutzt wenig psychologische Prozesse, sondern nutzt Wissen über die Mechanik des Ohrs. Auf Seiten des Formats haben wir Signalstatistiken, die zum effizienten Codieren herangezogen werden. Die sogenannte Maskierung ist dann intensiver, wenn Musik sehr breitbandig oder sehr komplex ist. Bei einzelnen Tönen hingegen tritt das nicht so stark auf. Teilweise gleichen sich diese Effekte wieder aus. Bei Sprache analysiert das Gehirn das Gehörte besonders kritisch. Sprache setzt sich aus der Sprachgrundfrequenz und Oberwellen zusammen, die der Algorithmus einzeln codiert. Sprache ist zudem ein sehr breitbandiges Signal. Im Fall von Tom‘s Diner hat der Algorithmus gemeldet, dass er die vierfache der verfügbaren Bitrate benötigt.
Letztlich aber haben Sie und Ihr Team auch dieses Problem gelöst. Aber schauen wir auf die Parallelen der Geschäftsmodelle zwischen Schallplatte und mp3. In beiden Fällen ging der größere Teil der Umsätze auf das Konto der Inhalte und nicht auf das der Technologien. Ist das nicht das klassische Vermarktungsproblem?
Wenn man sich die Rolle der Fraunhofer-Gesellschaft anschaut, dann muss man das klar verneinen. Wir haben vielleicht nicht die Umsätze von Dolby übertroffen, aber dennoch erhebliche Patenteinnahmen erzielt. Ich zitiere da auch gerne einen amerikanischen CTO eines großen Technikkonzerns und Freund, der mir Anfang 2000 erklärte: „You know Karlheinz, you Fraunhofer guys have been the only ones in this area, who understood the business models of the Internet.“ Zuerst hielt ich das für Schmeichelei. Aber im Nachhinein glaube ich doch, dass er nicht ganz unrecht hatte. Nach den damals bestehenden Marktregeln hätten sich Unternehmen durchsetzen müssen, die das 100-fache Marketing-Budget in vergleichbare Technologien investierten.
Millionen Nutzer nutzten dieses Format. Die Anbieter mussten nachziehen?
Diese Weichen wurden schon gestellt, als mp3 noch nicht standardisiert war. In den späten 90er Jahren konkurrierten einige Organisationen um diesen Markt – wie gesagt mit massiven Marketing-Budgets, aber vor allem mit Technologien, die nur wenig schlechter waren als mp3. Sie können mir glauben, dass wir gefeiert haben, als Microsoft und Sony als letzte große Player schließlich doch mp3 angenommen hatten.
Was hat Fraunhofer anders gemacht?
Wir haben den Markt betrachtet, in dem schon Präzedenzen gesetzt waren. RealNetworks, ein Microsoft-Spin-off, hatte für Musikübertragung einen Decoder und einen Encoder, mit dem man Inhalte vorbereiten konnte, kostenfrei im Internet zur Verfügung gestellt. Das klang zunächst ganz fürchterlich. Allerdings konnte man so immerhin auf einem Rechner Musik hören, was zu diesem Zeitpunkt noch nicht sonderlich verbreitet war. Diesem Beispiel folgten wir. Die Decoder, also sozusagen die Abspielgeräte, machten wir für die kommerzielle Nutzung auf PCs (nicht Abspielgeräte wie mp3-Player oder Smartphones) sehr günstig verfügbar. Unser Plan war es, die Encoder sehr teuer zu vermarkten. Allerdings hat uns ein australischer Student die Encoder-Bibliotheken entwendet und – heute würde man dazu »im Darknet« sagen – kostenlos zur Verfügung gestellt. Wir haben schließlich Preise massiv gesenkt und mit Shareware-Anbietern Verträge geschlossen. Mit Thomson war der richtige Industriepartner an unserer Seite. Damals gab es in Deutschland mit ITT Intermetall einen Hersteller, der mit mp3-Decoder-Chips zeitweise einen Weltmarktanteil von über 95 Prozent erreichte. Im Rahmen eines Industrieprojekts haben wir der Firma geholfen und vom Erfolg der mp3-Player durch Lizenzeinnahmen profitiert.