Multiresistente Keime

Webspecial Fraunhofer-Magazin 4.2024

Früher kämpfte Prof. Till Schäberle im Kader der deutschen Nationalmannschaft gegen die internationale Karate-Elite. Heute sind seine Gegner wesentlich kleiner, aber mindestens genauso furchteinflößend: Bakterien, gegen die Antibiotika nicht mehr wirken. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit jedes Jahr 1,3 Millionen Menschen an antibiotikaresistenten Infektionen sterben. Mehr als 39 Millionen Todesfälle bis 2050 prognostiziert eine umfassende Studie, veröffentlicht im September 2024 in der Fachzeitschrift »The Lancet«, sollte sich an der derzeitigen Versorgungssituation nichts ändern. Die Autorinnen und Autoren haben einen dringenden Appell: Erforscht neue Antibiotika!

Schäberle, der am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME in Gießen die Abteilung »Naturstoffforschung« leitet, hat bereits einen aussichtsreichen Kandidaten identifiziert: Darobactin. Die Substanz wird von Photorhabdus gebildet, einem Bakterium, das im Darm von Fadenwürmern lebt. Diese dringen in Insektenlarven ein und nutzen den Mikroorganismus als todbringende Waffe: Einmal injiziert sterben die Larven aufgrund von Toxinen, die das Bakterium bei seiner Vermehrung freisetzt. »Um seine Nahrungsquelle zu schützen, produziert es den Wirkstoff Darobactin. Damit tötet es Fressfeinde – andere Bakterien, für die die nährstoffreichen Larven ebenfalls attraktiv sind«, erklärt Schäberle. Darobactin zielt auf ein Target, also einen Wirkort, den keines der herkömmlichen Antibiotika attackiert: das überlebenswichtige Protein BamA, das sich in der äußeren Membran von gramnegativen Bakterien befindet – also in genau jenen Problemkeimen, gegen die neueWirkstoffe dringend gesucht werden. Schäberle: »Die Angriffspunkte gängiger Antibiotika sind relativ begrenzt, da hat sich seit den 1960er-Jahren nicht viel getan. Einneues Target heißt: Es wirkt auch gegen multiresistente Bakterien – eine große Chance!« So ist Darobactin nicht nur für den Fadenwurm ein unverzichtbarer Helfer, sondern könnte auch für uns ein wichtiger Verbündeter im Kampf gegen lebensbedrohliche Keime werden.

Bakterien sind Meister der Anpassungsfähigkeit. Darum überleben sie selbst an unwirtlichen Orten wie heißen Quellen, in der Tiefsee oder in stark radioaktiven Umgebungen. Jeder Einsatz von Antibiotika fördert die Bildung von Resistenzen: Empfindliche Bakterien werden abgetötet, andere finden einen Weg zu überleben, sich zu vermehren und genetisch so zu verändern, dass das Antibiotikum keine Angriffspunkte mehr hat. Resistente Erreger treten daher oft dort auf, wo viele dieser Medikamente eingesetzt werden, beispielsweise in Kliniken.

Bei Darobactin gibt es jedoch Hoffnung: »Unsere Studien zeigen, dass Bakterien, die ihr Target veränderten, um sich Darobactin zu entziehen, weniger gefährlich sind«, erzählt Schäberle. Er und sein Team arbeiten jetzt daran, die molekulare Leitstruktur zu optimieren: »Die Natur hat die Substanz nicht für die Anwendung im Menschen entwickelt. Wir müssen sie gegen die Pathogene, die uns betreffen, aktiver machen – und sicherstellen, dass sich keine toxischen Effekte zeigen.« Klar sei aber auch, dass ein einziger neuer Wirkstoff nicht reicht, um die Antibiotika-Krise in den Griff zu bekommen. »Wir brauchen eine ganze Toolbox, also viele verschiedene Lösungen, die man kombinieren kann und sollte, um lebensbedrohliche Infektionen erfolgreich zu bekämpfen.« Die Biodiversität biete zahlreiche Möglichkeiten. Schäberle appelliert: »Wir müssen alles nutzen, was geht!«

Tim Lüddecke
© Jonas Ratermann
Das Gift in den Scheren des Bücherskorpions lähmt Beutetiere – und kann auch gefährliche Krankenhaus-keime außer Gefecht setzen, entdeckte Dr. Tim Lüddecke.

Gifte, die heilen

Eine dieser Möglichkeiten, die bisher in der Antibiotika-Forschung kaum wahrgenommen wurde, sind Tiergifte. Schäberles Kollege Dr. Tim Lüddecke, der ebenfalls am Fraunhofer IME forscht und dort die Arbeitsgruppe »Animal Venomics« leitet, will das ändern. Lüddecke: »In Tiergiften steckt viel Potenzial für neue Arzneistoffe. Einige wichtige Medikamente basieren auf ihnen, wie zum Beispiel der verbreitete Blutdrucksenker Captopril, der ein leicht abgewandeltes Toxin aus der südamerikanischen Lanzenotter enthält.«

Im August haben er und sein Team entdeckt, dass einzelne Bestandteile aus der Giftstofffamilie des Bücherskorpions eine starke Wirkung gegen einen der häufigsten und gefährlichsten Krankenhauskeime haben: MRSA oder Methicillin-resistente Staphylococcus aureus. Der Erreger ist bei 20 bis 30 Prozent der Menschen auf Haut und Schleimhäuten zu finden, ohne krank zu machen. Gelangt er jedoch beispielsweise über OP-Wunden in den Körper, kann er Infektionen verursachen, die oft einen schweren Verlauf nehmen, denn MRSA ist gegen viele Antibiotika unempfindlich.

Lüddecke und sein Team konzentrieren sich bei ihrer Forschungsarbeit auf einheimische Gifttiere wie den Bücherskorpion, der durchschnittlich nur drei Millimeter groß wird und sich gerne in Büchern auf die Jagd nach Staubläusen macht. Er gehört zur Gruppe der Pseudoskorpione, die weltweit rund 3000 Arten umfasst. Lüddecke: »Im Vergleich zu richtigen Skorpionen besitzen sie keinen Giftstachel, sondern haben ihre Giftwerkzeuge vorne in den Scheren – also völlig verrückte Tiere.« Ihr Gift nutzen sie, um ihre Beutetiere, zu denen auch Milben und Fruchtfliegen gehören, zu lähmen.

Doch wie kommt man an das Gift dieser Winzlinge? »Mit erheblichem Aufwand«, sagt Lüddecke und lacht, alser den Weg beschreibt. Um das Bücherskorpion-Gift zumelken, baute das Fraunhofer IME-Team eine aufwendige Apparatur. Lüddecke: »Bis wir genug Gift für unsere chemische Analyse zusammenhatten, dauerte es ewig. Aber glücklicherweise mussten wir diese Prozedur nur einmal machen.« Denn sobald der Giftcocktail aufgeschlüsselt ist, kann man ihn chemisch-synthetisch oder biotechnologisch herstellen. Lüddecke: »Das gilt nicht nur für das Gift des Bücherskorpions, sondern für alle Tiergifte, mit denen wir arbeiten.« Diese sind in der Regel komplexe Gemische aus vielen verschiedenen Toxinen. »Es gibt Spinnen, deren Gift aus bis zu 3000 einzelnenStoffen besteht«, begeistert sich Lüddecke. Auch der kleine Bücherskorpion gehört zu den Spinnentieren. Sein Gift enthält zwar nicht ganz so vieleWirkstoffe, jedoch einen, der es in sich hat: Checacin haben Lüddecke und sein Team das Toxin getauft, das hochwirksam gegen MRSA ist. Es attackiert auch andere häufige Krankenhauskeime wie E. coli oder Pseudomonas aeruginosa und einige pathogene Pilze wie Candida. Lüddecke: »Herausstechend ist aber wirklich diese starke Wirksamkeit gegen MRSA.«

Noch stehen er und sein Team am Anfang ihrer Forschung, die genauen Eigenschaften und Wirkmechanismen von Checacin sind unklar. Lüddecke: »Bevor das Toxin als Arzneimittelwirkstoff in Betracht kommen kann, müssen wir beispielsweise untersuchen, ob die Moleküle im Blutserum stabil bleiben oder schnell zerfallen.« Für diesen Fall scheide der Einsatz als Antibiotikum aus. Schneller umsetzbar, weil mit weniger Hürden, Zeit- und Kostenaufwand verbunden, sei zunächst die Verwendung in antimikrobiellen Beschichtungen, denn MRSA wird häufig über medizinische Instrumente und Geräte übertragen. So ließe sich insbesondere die Infektionsgefahr von immungeschwächten Patientinnen und Patienten im Krankenhaus mit dem gefährlichen Bakterium eindämmen.

Viren, die Bakterien töten

Hat eine Infektion bereits stattgefunden, steht eine andere vielversprechende Therapieoption gegen MRSA und andere Problemerreger bereit: Bakteriophagen, zu Deutsch »Bakterienfresser«. Die Viren, die Bakterien als Wirte nutzen, sich in ihnen vermehren und sie so zum Platzen bringen, will ein Team am Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM in die pharmazeutische Anwendung bringen.
Obwohl die Phagentherapie bereits seit mehr als 100 Jahren existiert und in Russland und Osteuropa verbreitet ist, gibt es bisher keine Studien, die ihre klinische Wirksamkeit wissenschaftlich gesichert nachweisen – und dementsprechend keine in der EU oder den USA zugelassenen Phagen-Medikamente. Nachdem in den USA 1943 ein Weg gefunden worden war, Penicillin in großen Mengen zu produzieren, setzte der Westen auf Antibiotika. Denn im Vergleich zu Phagen sind Antibiotika der klinisch einfachere und erfolgversprechendere Weg: Sie wirken breit gegen Bakterien, während Phagen wählerisch sind. Sie infizieren nur bestimmte Stämme einer Bakterienart. Um passende Phagen auswählen zu können, muss daher vor Therapiebeginn genau abgeklärt werden, welcher Erreger die Infektion verursacht. Im Unterschied zu Antibiotika kann die Behandlung nicht bereits auf Verdacht gestartet werden. Das ist umständlicher und teurer, aber gleichzeitig auch ein Vorteil: Phagen verschonen die gesunden Bakterien im menschlichen Mikrobiom, die von Antibiotika unterschiedslos attackiert werden, was oft Nebenwirkungen von Durchfall bis zur Schwächung des Immunsystems zur Folge hat.
In der georgischen Hauptstadt Tiflis befindet sich am Georgi-Eliava-Institut, gegründet 1923, die größte Phagensammlung der Welt. Hier landen viele Anfragen von Patientinnen und Patienten, denen Antibiotika nicht mehr helfen können. Die Therapie ist ihre letzte Hoffnung. Die Phagen, die sie erhalten, entsprechen jedoch nicht den Sicherheits- und Qualitätsanforderungen des europäischen Arzneimittelrechts. Die Behandlung ist entsprechend riskant.

Phagen-Cocktails sicher produzieren

An sicheren Alternativen arbeiten Forscherinnen am Fraunhofer ITEM. Im Projekt Phage4Cure wollen sie gemeinsam mit dem Leibniz-Institut DSMZ – Deutsche Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH und der Charité Berlin die Wirksamkeit der Phagen-Therapie belegen und erstmalig in der EU ein Phagen-Arzneimittel auf den Markt bringen. Der Cocktail aus drei verschiedenen Phagen wirkt gegen Bakterien der Art Pseudomonas aeruginosa, die häufig die Lunge befallen und hier für schwere Entzündungen sorgen. Die meisten Stämme sind gegen eine Vielzahl von Antibiotika resistent. Dr. Sarah Wienecke und Dr. Imke Korf, Expertinnen für biotechnologische Produktionsverfahren und Phagenbiologie, gelang am Braunschweiger Standort des Fraunhofer ITEM ein Durchbruch: Sie identifizierten nicht nur Phagen mit therapeutischem Potenzial, sondern stellten den Phagen-Cocktail auch unter GMP-Bedingungen her – und schufen damit eine zwingende Voraussetzung für dessen Zulassung. GMP steht für »Good Manufacturing Practice« – strenge Auflagen zur Qualitätssicherung, zum Beispiel in Bezug auf die Reinheit und Sicherheit der Wirkstoffe oder die genaue Dokumentation aller Prozessabläufe. Wienecke: »Die Herstellung von Phagen ist anspruchsvoll, denn Phage ist nicht gleich Phage.« Die Bakterienfresser haben ihre individuellen Vorlieben, was beispielsweise Temperatur, Nährmedium oder Sauerstoffbegasung angeht. Die drei Phagen gegen Pseudomonas aeruginosa werden daher nicht gemeinsam produziert, sondern in voneinander getrennten Prozessen, und erst später zusammengemischt. Die Wissenschaftlerinnen entwickelten eine Herstellungsplattform, die sich – individuell angepasst – auch für andere Phagen nutzen lässt. Korf: »Die Infrastruktur für die Phagenproduktion steht. Inzwischen wissen wir, an welchen Stellschrauben wir drehen müssen, um für jeden Phagen die idealen Bedingungen zu schaffen. Je mehr Phagen wir herstellen, desto mehr Erfahrungen sammeln wir – und desto stärker lässt sich der Prozess beschleunigen.«

Dr. Dorothee Winterberg (l.) und Dr. Franziska Dahlmann vom Fraunhofer ITEM
© Jonas Ratermann
Erinnern ein wenig an rote Christbaumkugeln: Phagen, die sich an eine Bakterienwand heften. Dr. Dorothee Winterberg (l.) und Dr. Franziska Dahlmann vom Fraunhofer ITEM vertrauen auf das therapeutische Potenzial dieser Bakterienfresser.

Doch bevor der Phagen-Cocktail den ersten Probanden in der Charité verabreicht werden durfte, musste er in präklinischen Studien unter anderem auf unerwünschte Nebenwirkungen oder Toxizität getestet und die Dosis-Wirk-Beziehung ermittelt werden. Dr. Dorothee Winterberg, Abteilungsleiterin Präklinische Toxikologie am Fraunhofer ITEM in Hannover: »Das Präparat wird inhaliert. Wir konnten zeigen, dass das eine sichere Sache ist, weil die Phagen im Tiermodell ausschließlich dort landeten, wo sie hinsollten: in der Lunge. Sie sind weder ins Blut noch in andere Organe gewandert.« Dadurch habe man hier auch keine Nebenwirkungen zu befürchten. Hohe Konzentrationen und eine tägliche Inhalation des Präparats von bis zu 14 Tagen in Folge zeigten keine negativen Effekte. Insgesamt waren die Studienergebnisse so gut, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte BfArM grünes Licht für die Aufnahme der klinischen Studien an der Charité geben konnte, die seit Herbst 2023 laufen – zunächst an gesunden Freiwilligen, zurzeit an Patientinnen und Patienten, die unter einer chronischen Besiedlung der Lunge mit Pseudomonas aeruginosa leiden. Im Herbst 2025 sollen erste Ergebnisse veröffentlicht werden.

Doch Phagen sind nicht einfach die besseren Antibiotika, Bakterien können auch gegen sie Resistenzen entwickeln. Ideal könnte daher eine Kombination aus beiden sein. »Wir haben infizierte Lungenschnitte mit unserem Phagen-Präparat und Antibiotika behandelt und gesehen, dass das deutlich besser funktioniert, als wenn man nur eins von beiden einsetzt«, berichtet Dr. Franziska Dahlmann, Gruppenleiterin Infektion und Immunologie. Ihre Wunschvorstellung für die Zukunft: Phagen-Cocktails gezielt mixen und einsetzen zu können, um solche Bakterien abzutöten, die durch Mutation der Antibiotika-Therapie entgehen. Dafür wäre eine sogenannte magistrale Zubereitung in Apotheken ideal, vermuten ihre Kolleginnen Wienecke und Korf: Hier könnten die Cocktails individuell auf die Patientinnen und Patienten abgestimmt zusammengemischt werden. Auf kostspielige und langwierige klinische Studien könnte man so verzichten, auf entwickelte Resistenzen schnell reagieren und die Zusammensetzung der Phagen-Cocktails flexibel verändern.

Im Projekt PhagoFlow haben sie gemeinsam mit der Apotheke, der Mikrobiologie und der Chirurgie des Bundeswehrkrankenhauses Berlin sowie dem Leibniz-Institut DSMZ diesen Weg bereits getestet – mit Erfolg. Finanziert wurde das Pilotvorhaben vom Gemeinsamen Bundesausschuss. Wienecke: »Ich darf schon so viel verraten: Bei einzelnen Patientinnen und Patienten des Bundeswehrkrankenhauses haben die Phagen-Präparate sehr gut geholfen. Wir sind über jeden Fall froh. Wenn man so lange daran forscht, ist es wirklich schön zu sehen, dass man etwas bewirken konnte.« Bevor die Lösung jedoch großflächig umgesetzt werden kann, muss eine Möglichkeit geschaffen werden, den Apotheken sehr viel mehr Phagen für die unterschiedlichen Bakterienarten bereitzustellen. Denn wie jeder Barkeeper sich aus einer Vielzahl an Zutaten bedienen können muss, so muss auch jede Apothekerin und jeder Apotheker auf zahlreiche Phagen-Präparate zugreifen können, um patientenindividuelle Cocktails zu mixen. Mit der Phagen-Herstellungsplattform aus dem Fraunhofer ITEM sind zwar die Voraussetzungen für eine Massenproduktion in großem Stil geschaffen, doch sind aktuell die GMP-Anforderungen zu hoch, um noch mehr Tempo gewinnen zu können. Korf: »Hier wäre es wichtig, sich in Zukunft auf Minimalanforderungen zu einigen, um den Produktionsprozess so schlank und schnell wie nötig zu gestalten.«

Belinda Loh
© Jonas Ratermann
Dr. Belinda Loh geht in Kläranlagen auf Phagen-Jagd – mit Erfolg. Ihre Sammlung am Fraunhofer IZI umfasst inzwischen 200 unterschiedliche Phagen. Rund die Hälfte ist gegen Klebsiella pneumoniae wirksam, einem gefürchteten Krankenhauskeim (orange eingefärbt).

Abwasser als Fundgrube

Auch Dr. Belinda Loh vom Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI in Leipzig glaubt, dass wir es uns nicht leisten können, im Kampf gegen multiresistente Keime weiterhin auf Phagen zu verzichten.

Gemeinsam mit ihrer Forschungsgruppe und in Kooperation mit mitteldeutschen Krankenhäusern arbeitet die Wissenschaftlerin aus Singapur daher ebenfalls an der Entwicklung von Phagen-Therapeutika. Um wirksame Bakterienfresser gegen häufige Problemkeime aufzuspüren, machen sich Loh und ihr Team regelmäßig auf den Weg zur Kläranlage. »Je schmutziger das Wasser, desto besser«, sagt sie. Denn Phagen entdecke man nur dort, wo sich ihre Wirte tummeln, die Bakterien. »Es ist eine Koevolution. Man kann das eine nicht ohne das andere finden.« Loh gibt zu: »Das gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsjobs. Das Wasser ist so schmutzig, dass es zum Teil nicht einmal mehr flüssig ist, und der Geruch ist wirklich furchtbar.« Doch die Qual lohnt sich: Das Abwasser ist eine wahre Fundgrube. Inzwischen umfasst ihre Sammlung rund 200 Phagen, etwa die Hälfte ist gegen Klebsiella pneumoniae wirksam – ein gefürchteter Krankenhauskeim, der bei geschwächten Kranken schwere Lungenentzündungen oder Sepsis, also Blutvergiftung, auslösen kann. Er ist zunehmend resistent gegen gängige Antibiotika und kann weitere Infektionen begünstigen. Auch gegen andere problematische Erreger wie Pseudomonas aeruginosa oder multiresistente Enterokokken hat Loh wirksame Phagen entdeckt.

Neben dem Einsatz der Phagen selbst erforschen Loh und ihr Team auch die therapeutische Verwendung einzelner Phagen-Proteine. Loh: »Ein Phage besteht aus DNA, die von einer Proteinhülle umschlossen ist. Zudem produziert er weitere Proteine, die Bakterien abtöten können. Um das Bakterium zu zerstören, nutzen wir bestimmte Phagen-Proteine, die Zellwand und Zellmembran durchlöchern.« Man könne sich das Bakterium wie einen prall gefüllten Wasserballon vorstellen, in den mit sehr dünnen Nadeln gepikst wird: »Irgendwann platzt er.« Die Vorteile dieser Methode: Antibakterielle Proteine wirken nicht nur auf sehr spezifische Bakterienstämme, sondern breiter. Loh: »Weit wichtiger ist jedoch, dass die Arzneimittelzulassung vereinfacht wird.« Denn die therapeutischen Proteine dürfen im Unterschied zu Viren als sogenannte Biologika produziert werden. Man könnte sie wie ein chemisches Antibiotikum einsetzen. Das Problem bestehe allerdings darin, so Loh, geeignete Proteine zu finden: »Ich schaue mir daher jeden Phagen genau an und identifiziere alle Gene, die potenziell interessant sein könnten. Dann stelle ich die Proteine separat in Bakterien her und teste sie.«

Doch selbst wenn die Phagen-Forschung zurzeit an Dynamik gewinnt: Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis erste Präparate auf den Markt kommen. Bis dahin ist es umso wichtiger, die Ausbreitung der gefährlichen Erreger einzudämmen und die Zahl der Infektionen, vor allem in Krankenhäusern oder Altenheimen, so gering wie möglich zu halten. Ein Forschungsteam am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart hatte zu diesem Zweck eine einfache, aber sehr effektive Idee, die bereits erfolgreich in zwei Kliniken getestet wurde: antimikrobielle Wandfarbe, die Bakterien und Viren zuverlässig abtötet. Dr. Christina Bauder, Teamleiterin Lackchemische Anwendungstechnik: »Wir haben der Farbe photokatalytisch aktive Pigmente beigemischt. Durch Tageslicht oder künstliche Raumbeleuchtung werden sie aktiviert und bilden Radikale, die mit den Keimoberflächen reagieren und sie so zerstören.« Dafür müssen die Erreger noch nicht einmal mit der Wandfläche direkten Kontakt haben – es reicht, wenn sie durch die Luftzirkulation in die unmittelbare Nähe kommen. »Das Schöne an unserer Methode ist: Die chemische Reaktion läuft endlos weiter, der Photokatalysator wird nicht verbraucht«, unterstreicht Bauder. Denn er nutzt den Sauerstoff und das Wasser aus der Raumluft, um die für Menschen ungefährlichen Radikale zu erzeugen. So behält die Wandfarbe dauerhaft ihre Wirksamkeit – im Unterschied zu anderen antimikrobiellen Beschichtungen, die nach und nach Stoffe abgeben, um die Keime abzutöten. Bauder: »Wenn diese Substanzen aufgebraucht sind, ist der Schutz nicht mehr gegeben. Das kann bei uns nicht passieren. Sogar im Dunkeln hat unser Photokatalysator eine Restaktivität, die mindestens 24 Stunden anhält.« Die Ergebnisse der Feldversuche in der Oberschwabenklinik in Ravensburg und im Kantonsspital Graubünden in Chur sind beeindruckend: Die Farbe war hochwirksam, die Abstrichproben, die die Forschenden von den Wänden nahmen, waren nahezu keimfrei. 

Trotz aller Lösungsansätze bleibt die Antibiotikakrise hochgefährlich, denn es gibt ein besonderes Problem: Antibiotika sind nicht lukrativ. Die Preise sind niedrig, die Entwicklungskosten hoch. »Eigentlich müssten wir in der Lage sein, dieser schleichenden Pandemie, wie es der frühere Präsident des Robert Koch-Instituts Lothar Wieler einmal formuliert hat, mehr entgegenzusetzen«, sagt Dr. Dorothee Winterberg vom Fraunhofer ITEM. Es gebe zwar zahlreiche Forschungsinitiativen, aber leider zu wenig Geld. Winterberg seufzt: »Das macht einen manchmal verrückt.« Ähnlich sieht das Prof. Till Schäberle vom Fraunhofer IME. »Der Markt wird es nicht richten, das muss staatlich gesteuert werden«, ergänzt er.  Er setzt Hoffnungen auf große, global agierende Förderinitiativen wie CARB-X, die unter anderem von der Bill & Melinda Gates Foundation, der US-amerikanischen und kanadischen Regierung sowie dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wird. Schäberle ist überzeugt: »Es ist nötig und daher wird sich auch etwas tun.«               

Turbo-Diagnostik in Briefmarken-Größe

Egal, ob Phagen oder Antibiotika – entscheidend für den Behandlungserfolg sind schnelle Diagnostiksysteme, die idealerweise bereits vor Ort im Krankenhaus den Infektionserreger inklusive vorhandener Resistenzen identifizieren. Daran arbeitet ein Team am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie, Institutsteil für Bioanalytik und Bioprozesse in Potsdam. Emily Mattig, technische Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Point-of-Care-Technologien: »Der klassische Erregernachweis über eine Blutkultur dauert etwa fünf bis sieben Tage. Wir wollen es in vier Stunden schaffen.« Bei schweren Infektionen und besonders bei Sepsis, also einer Blutvergiftung, rettet die Zeitersparnis Leben. Der Trick: Mattig und ihr Team weisen das Bakterium über seine DNA nach, statt die Blutprobe in speziellen Nährmedien zu bebrüten und darauf zu warten, dass mögliche Mikroorganismen langsam heranwachsen, um sie identifizieren zu können. Dafür isolieren die Forscherinnen und Forscher zunächst die Bakterien-DNA, vervielfältigen sie und geben sie auf ein Microarray – einen Chip, auf dem zahlreiche DNA-Gegenstücke unterschiedlicher Bakterien angeordnet sind.

»Wenn die DNA an einem dieser Gegenstücke bindet, die wir Sonden nennen, haben wir den Erreger gefunden«, erklärt Mattig. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen ist es ihr gelungen, modifizierte Sonden auch für Resistenzen zu entwickeln: »Bei Resistenzen reicht es nicht, nur das Gen nachzuweisen. Es kommt auf spezifische Punktmutationen an, die sich in dem Gen befinden. Aber auch die können wir identifizieren.« Dabei ist das Microarray winzig. Auf einer Fläche von etwa drei Quadratzentimetern finden 5000 Sonden Platz. Das komplette Diagnostiksystem ließe sich problemlos im Behandlungszimmer einer Klinik unterbringen. So könnte man sich den zeitraubenden Weg über externe Labore zukünftig sparen.

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Emily Mattig forscht am Fraunhofer IZI an Diagnostiksystemen, die lebensbedrohliche Erreger wie Pseudomonas aeruginosa (in Blau) und Resistenzen rasch erkennen.
 

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