Der berühmte Griff in die Kiste
Dem Roboter das Greifen beibringen: Daran arbeitet seit mehreren Jahren ein Forschungsteam am Fraunhofer IPA. Die Automatisierung des sogenannten »Griff in die Kiste« – englisch »Bin Picking« – gilt als eine der Königsdisziplinen der Robotik. In vielen Bereichen der industriellen Produktion fallen große Mengen Schüttgut an, die möglichst sortenrein getrennt werden sollen. Die Aufgabe ist monoton, körperlich belastend und kostenintensiv – und dadurch bestens geeignet für den Kollegen Roboter. Für den allerdings ist dieser Job höchst anspruchsvoll: Das Gros der Industrieroboter, die hier aktuell im Einsatz sind, verwendet bestenfalls einen Laserscan, um vorher gelernte Gegenstände unterscheiden zu können.
Künstliche Intelligenz versucht, die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen nachzuahmen, indem sie – wie der homo sapiens auch – eingehende Informationen erkennt und sortiert. Allerdings wird dabei kein Lösungsweg vorgegeben: Der Algorithmus entwickelt bei diesem maschinellen Lernverfahren allein in der Simulation einen Weg, Aufgaben korrekt auszuführen. Durch das Training mit sehr großen Datenmengen können sogenannte Neuronale Netze – ein Untergebiet des Maschinellen Lernens – Muster und Zusammenhänge erkennen und auf dieser Basis dann Entscheidungen und auch Vorhersagen treffen. Dies bedingt, dass sie mit der Zeit immer besser werden.
Maschinelles Lernen kann auch bei der Handhabung unbekannter Objekte weiterhelfen: Im Forschungsprojekt Deep Grasping wurden Neuronale Netze in einer virtuellen Simulationsumgebung für die Objekterkennung trainiert und anschließend auf reale Roboter übertragen. Inzwischen ist das Robotersystem in der Lage, selbst verhakte Bauteile zu erkennen und sein Greifen so zu planen, dass es diese voneinander lösen kann. Zudem wird an Automatisierungssystemen gearbeitet, die sich selbstständig konfigurieren, etwa durch die automatische Wahl von Greifer und Greifposen – Stichwort »Automatisierung der Automatisierung«.
Dinge aus einer Kiste zu klauben und anderswo abzulegen: Das klingt banal angesichts der von Optimus & Co. geweckten Hoffnungen. Doch diese scheinbar kleinen Jobs basieren auf riesigen Fortschritten in der Robotik. Werner Kraus verweist hier auf das sogenannte »Moravec‘sche Paradox«: Gerade Aufgaben, die uns Menschen unglaublich simpel erscheinen, sind für Roboter tatsächlich extrem schwierig. Oder wie es der kanadische Wissenschaftler Hans Moravec formulierte: »Es ist vergleichsweise leicht, Computer dazu zu bringen, Leistungen auf Erwachsenenniveau bei Intelligenztests oder beim Dame-Spiel zu erbringen – und schwierig bis unmöglich, ihnen die Fähigkeiten eines Einjährigen in Bezug auf Wahrnehmung und Mobilität zu vermitteln.«
Der Einzug der KI in die Robotik soll helfen, diese Hürden zu überwinden, und gilt als einer der bahnbrechenden Trends in der Digitalisierung der industriellen Produktion. Das Marktforschungsunternehmen Mordor Intelligence etwa prognostiziert für den Robotikmarkt bis 2029 eine jährliche Wachstumsrate von 29 Prozent. Smarte Industrieroboter können Produktionsgeschwindigkeit, Genauigkeit und Sicherheit steigern, die Fehlererkennung und -behebung erleichtern und die Produktion durch vorausschauende Wartung resilienter machen.
Um die Wirtschaft auf ihrem Weg in die Industrie 5.0 zu unterstützen, hat das Fraunhofer IPA gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO in Stuttgart 2019 das KI-Forschungszentrum »Lernende Systeme und Kognitive Robotik« gegründet – ein anwendungsorientierter Zweig des Cyber Valley, Europas größter Forschungskooperation im Bereich KI. Ziel ist, über praxisnahe Forschungsprojekte eine Brücke zu schlagen zwischen Technologien der KI-Spitzenforschung und dem Mittelstand.
In Magdeburg hat das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF gemeinsam mit Unternehmen Use Case Labs geschaffen, in dem das produzierende Gewerbe ihre Automatisierungsanforderungen präsentieren und maßgeschneiderte intelligente Robotik-Lösungen erarbeiten kann. Das Spitzenforschungsinstitut Lamarr – eines von fünf universitären KI-Kompetenzzentren bundesweit, die als Teil der KI-Strategie der Bundesregierung dauerhaft gefördert werden – gestaltet eine neue Generation der Künstlichen Intelligenz, die leistungsstark, nachhaltig, vertrauenswürdig und sicher zur Lösung zentraler Herausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft beiträgt. Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML bringt sich dabei unter anderem mit seiner Forschungsinfrastruktur PACE Lab ein.
Im Juli ist zudem das Robotics Institute Germany (RIG) gestartet, das zur zentralen Anlaufstelle für Robotik in Deutschland werden soll. An dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 20 Millionen Euro geförderten Kompetenznetzwerk unter der Leitung der Technischen Universität München (TUM) sind neben den Fraunhofer-Instituten IPA und IML auch das Fraunhofer-Institut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB beteiligt. Ziele des RIG sind, eine international wettbewerbsfähige Forschung für KI-basierte Robotik in Deutschland zu etablieren, Forschungsressourcen effektiv zu nutzen, Talente auf dem Gebiet der Robotik gezielt zu fördern und den Transfer von Forschungsergebnissen in die Industrie, in Logistikunternehmen und die Dienstleistungsbranche zu vereinfachen und voranzutreiben.