Die Hälfte der deutschen Autobahnbrücken ist alt und überlastet, Sperrungen und Staus sind vorprogrammiert. Ein neues Monitoringsystem zur permanenten Zustandsüberwachung soll helfen.
Lärmender, stinkender Schwerlastverkehr verstopft seit Anfang Dezember 2021 die Straßen im sauerländischen Lüdenscheid. Rund 25 000 Fahrzeuge werden hier täglich von der A45 ab- und durch das früher beschauliche Städtchen umgeleitet, weil es auf der Autobahn nicht mehr weitergeht: Die Rahmede-Talbrücke musste wegen gravierender Schäden komplett gesperrt werden. Eine Sanierung der 53 Jahre alten Brücke ist nicht mehr möglich, es bleibt nur noch der Abriss und Neubau – kein Einzelfall.
Etwa die Hälfte der 28 000 Autobahnbrücken in Deutschland stammt aus der Zeit zwischen den 1960er und 1980er Jahren. Allein seit Beginn der 1980er Jahre hat sich der Verkehr nahezu verdoppelt, vor allem der Schwerlastverkehr hat deutlich zugenommen. Doch die Lkw wurden nicht nur mehr, sie wurden auch deutlich massiger. 40 Tonnen Gesamtgewicht und elf Tonnen Achslast sind keine Seltenheit. »Alte Brücken und aktueller Verkehr passen nicht zusammen«, bringt es Dr. Jürgen Krieger auf den Punkt, Direktor und Professor bei der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Der Bauingenieur leitet die Abteilung Brücken- und Ingenieurbau. Sanierungen oder Neubauten können jedoch nur nach und nach vonstattengehen, wenn der Verkehr weiter fließen soll. »Wir müssen also dafür sorgen, dass dieser Altbestand so lange wie möglich weiter funktioniert«, mahnt Krieger.
Permanentes Monitoring senkt Kosten
Helfen will dabei Prof. Hans-Georg Herrmann mit seinem Team am Fraunhofer-Institut für zerstörungsfreie Prüfverfahren IZFP in Saarbrücken. Der stellvertretende Institutsleiter, Ingenieur und Experte für Sensorik arbeitet an einem Sensorsystem zur permanenten Zustandsüberwachung von Brücken. »Es ist zwingend notwendig, von einem reaktiven zu einem prädiktiven, also vorausschauenden Erhaltungsmanagement zu kommen, um die Kosten und Konsequenzen für den Verkehr so gering wie möglich zu halten«, ist Herrmann überzeugt. Prof. Krieger pflichtet ihm bei. Mithilfe einer intelligenten Sensorik sollen problematische Veränderungen am Bauwerk in Zukunft frühzeitig entdeckt werden – bevor sichtbare Schäden entstehen.
Brücken werden bisher von speziell geschulten Bauwerksingenieuren in einem dreijährigen Intervall von Haupt- und Zwischenprüfungen begutachtet – fast ausschließlich visuell. Die Hauptprüfungen erfolgen nach DIN 1076 »vollflächig« und »handnah«, das heißt: Jeder Quadratmeter wird genaustens inspiziert. Der Prüfer muss dabei so nah sein, dass er jederzeit das Bauteil anfassen und zum Beispiel abklopfen kann. Er dokumentiert und bewertet Risse oder andere Schäden. Ist er sich unsicher, ordnet er eine tiefergehende Analyse an. Dann kommen auch etablierte zerstörungsfreie Prüfverfahren wie Ultraschall oder Georadar zum Einsatz, wie sie am Fraunhofer IZFP entwickelt werden. »Wir verfolgen einen multimodalen Ansatz, das heißt wir kombinieren verschiedene, teilweise auch neu konzipierte Sensoren, Mess- und Zustandsgrößen, um eine Fragestellung, die uns die Bauingenieure vorgeben, zu lösen. Das System soll sich vielfältiger Informationsquellen bedienen, ähnlich wie es der Mensch mit seinen Sinnen macht«, erklärt Herrmann. So könne beispielsweise die Dicke von Betonstrukturen gemessen werden oder Korrosion am eingebetteten Stahl – eine charakteristische Schwäche der Spannbetonbrücken, die einen Anteil von rund 70 Prozent am Bundesfernstraßenbestand haben. Vor allem die Brücken aus den 1970er und 1980er Jahren sind von der sogenannten Spannungsrisskorrosion bedroht, die dazu führen kann, dass Spannstähle unerwartet reißen und im Extremfall die Brücke einstürzen lassen. »Wir haben enorme Fortschritte bei den Baumaterialien gemacht. Damals war der Beton längst nicht so haltbar und dicht wie heute«, sagt Krieger. Die Folge: Der alte Beton ist empfindlich, Risse tun sich auf, Wasser und Streusalz dringen ein und setzen den betagten Baustählen zu. Krieger seufzt. »Dann kann man eigentlich nichts mehr machen.«
Damit es nicht so weit kommt, ist es wichtig, die Fahrbahndecken aus Beton, die mit einer Stahlbewehrung verstärkt sind, also eingelegten Stahlmatten, engmaschig zu kontrollieren – und gegebenenfalls auszubessern. »Wir arbeiten gerade daran, unsere Prüfsysteme so zu miniaturisieren, dass sie als permanente Sensoren vor Ort installiert werden können«, sagt Herrmann. Die Energieversorgung der effizienten, intelligenten Sensoren soll autark sein, idealerweise über Solarzellen, das System eine Echtzeit-Zustandserfassung erlauben. Das Auslesen der Daten vor Ort kann dann drahtlos per Handy erfolgen oder durch einen automatisierten Transfer in die Cloud. Eine erste Teilkomponente ist bereits entwickelt und wird zurzeit getestet.
Auch Carsten Chassard von der Autobahn GmbH des Bundes, die seit Anfang 2021 für Planung, Bau und Betrieb der Brücken zuständig ist, würde ein Sensorsystem als weiteres Werkzeug der Bauwerksüberwachung und nachhaltigen Erhaltung begrüßen. Der Bauingenieur, der die Außenstelle Neunkirchen bei Saarbrücken leitet, ist für ein 334 Kilometer langes Autobahnstreckennetz mit 527 Brücken verantwortlich. Auch er klagt über korrodierten Betonstahl und Risse im Betongefüge. Mit einer kontinuierlichen Überwachung, so hofft er, könnten Maßnahmen früher und zielgerichteter ergriffen werden. »Das Messprogramm muss aber immer an die spezielle Brücke und deren statische Besonderheiten angepasst sein.«
Dabei ist es wichtig, die Erkenntnisse aus den Bauwerksprüfungen, bereits identifizierte Schäden und charakteristische Schwachstellen verschiedener Brückentypen zu berücksichtigen. Gemessen werden müssen auch grundlegende Werte wie die Einwirkungen des Verkehrs oder die Luft- und die Bauwerkstemperatur. Nur so lassen sich die Daten einordnen und korrekt interpretieren. Die Sensoren sollten vor allem an den Stellen mit maximaler Beanspruchung angebracht werden, die für jede Brücke individuell ermittelt werden müssen. »Wir haben in Deutschland keine Baukasten-Standardbrücken. Wenn der Sensor irgendwo sitzt, wo nichts passiert, bringt das nichts«, warnt Krieger. Ein permanentes Monitoring aller Sorgenkinder sei jedoch illusorisch. Stattdessen müsse man repräsentative Objekte auswählen und die Erkenntnisse auf ähnliche Brücken oder Bauteile übertragen – um Sperrungen wie in Lüdenscheid und die damit einhergehenden volkswirtschaftlichen Schäden in Millionenhöhe zu vermeiden.
Fraunhofer-Institut für Zerstörungsfreie Prüfverfahren IZFP | Geschäftsfeld Infrastruktur / Bau