Hilfe aus dem All
Satelliten so klein wie ein Schuhkarton: So will ConstellR jedem Bauern ermöglichen, passgenau Wetterdaten für seine Felder abzurufen – und die Landwirtschaft klimafester zu machen.
Satellitenmissionen mit großem sozialen Impact: So lautete eine Ausschreibung der Europäischen Weltraumorganisation ESA im Jahr 2017. Diese Ausschreibung bekamen auch Marius Bierdel und sein Kollege Max Gulde vom Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik, Ernst-Mach-Institut EMI zu Gesicht. Sie beschlossen, sich zu beteiligen – aus Spaß. Mehr als 200 Teams reichten ihre Ideen ein, aller Konkurrenz zum Trotz schafften es Bierdel und Gulde »aufs Siegertreppchen« und ergatterten den dritten Platz. »In diesem Moment wurde uns erst so richtig klar, dass unser Ansatz tatsächlich einen signifikanten Mehrwert für die Gesellschaft hat«, erzählt der Ingenieur. Das Team will mit seiner Technologie der Landwirtschaft zu mehr Effizienz verhelfen – und somit sowohl eine Antwort auf die Folgen des Klimawandels als auch auf die drohende Nahrungsmittelknappheit bieten.
Mehrwert für die Gesellschaft? Zweifelsohne!
Möglich machen soll es ein Messsystem, das integriert in Kleinsatelliten hochgenaue Temperaturdaten ermittelt. Klingt erst einmal lapidar, hat es aber in sich: Die Daten werden von Smart-Farming-Firmen aufbereitet und liefern dann Landwirten feldgenaue und detaillierte Informationen. Beispiel: »Sie sollten Ihre Felder heute bewässern und morgen die Ernte einholen.« Denn aufgrund des Klimawandels wird es stets schwieriger, die Felder allein über Erfahrungswerte zu bestellen, stattdessen müssen sich die Landwirte auf Wassermangel und Starkwetterereignisse einstellen.
Daten dieser Art ermitteln zwar auch heutige Satelliten bereits. Doch sind diese Erdtrabanten meist so groß wie ein Bus, eine einzige Satellitenmission kostet bis zu 800 Millionen Euro. Deshalb gibt es zu wenige – über dem Feld des Landwirts zieht der Satellit nur alle paar Wochen einmal seine Bahn. »Für die Landwirtschaft sind regelmäßige Daten in einer feldgenauen Auflösung elementar«, weiß Bierdel. Ebendies kann die neue Technologie leisten. Die beiden Forscher konnten die Messinstrumente so stark verkleinern, dass sie von Kleinsatelliten in der Größe eines Schuhkartons getragen werden können. »Die Kosten sinken um den Faktor 400 – die Daten können täglich mit einer räumlichen Genauigkeit von unter hundert Metern ermittelt werden«, ist sich Bierdel sicher.
Die Frage, die sich nach der ESA-Ausschreibung stellte: Wie lässt sich die Idee in die Praxis überführen? Hier kam den beiden Forschern Fraunhofer Venture gerade recht: Sie wurden ausführlich über die Accelerator-Programme, die Fraunhofer für junge Gründer anbietet, unter anderem über die Fraunhofer Days, kurz FDays genannt, beraten. »Die FDays waren für uns der Startschuss – die Stimmung dort hat uns komplett gefangengenommen und begeistert. Ebenso wie die Idee, ein Start-up zu gründen und eigene Entscheidungen treffen zu können«, erzählt Bierdel. Auch personell änderten die FDays einiges: Dort lernten sie Christian Mittermaier kennen, der das naturwissenschaftlich geprägte Gründerteam mit seinem betriebswirtschaftlichen Hintergrund ergänzte.
ConstellR-Technologie auf der Internationalen Raumstation ISS
Über eine Exist-Förderung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und das Fraunhofer AHEAD-Programm konnte das Gründerteam etwa zwei Millionen Euro an öffentlichen Fördergeldern einwerben und die Technologie am Fraunhofer EMI weiter vorantreiben. Im April 2020 stand die Gründung ihres Start-ups ConstellR an. Das erste Highlight für das derzeit 19-köpfige Team: Am 1. Februar 2022 wird die ConstellR-Technologie ins All befördert – und dann für vier Monate gemeinsam mit der NASA auf der Internationalen Raumstation ISS betrieben. »Auf diese Weise können wir nachweisen, dass unser System im Weltall unter realen Bedingungen funktioniert, ohne jetzt schon einen eigenen Satelliten nach oben bringen zu müssen«, freut sich Bierdel. Eigene Satelliten sollen im Jahr 2023 folgen – vier an der Zahl. »Damit können wir bereits zehn Prozent der landwirtschaftlichen Flächen weltweit monitoren«, sagt Bierdel stolz.
Die Begeisterung der drei Gründer und die klare Roadmap hat auch die Investoren überzeugt. Statt zu überlegen, wie viel Geld die kleine Firma über Investoren zusammentragen kann, drehte das Team den Spieß auf Rat eines Fraunhofer-Mentors um und plante genau, was es zu welchem Zeitpunkt erreicht haben wollte. Hieß es in der ersten Finanzierungsrunde noch, »mehr als 500 000 Euro kann ein Start-up kaum einwerben«, hat das Team mittlerweile Investorengelder in Höhe von einer Million Euro in der Tasche. Bierdel freut sich: »Über ConstellR kann ich meinen Teil dazu beizutragen, die Herausforderungen der Nahrungsmittelknappheit, der wachsenden Weltbevölkerung und des Klimawandels angehen zu können. Das motiviert mich unglaublich.«