Unsere Energie

Webspecial Fraunhofer-Magazin 3.2022

Es werde ... Energie!

Es ist der 15. September, ein milder Spätsom­mertag mit 17 Grad in Berlin und 23 Grad in München, ein paar Tage noch vom ka­lendarischen Herbstanfang entfernt, als der Kälteschreck über Deutschland kommt. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund warnt vor flächendecken­den Stromausfällen. »Die Gefahr eines Blackouts ist ge­geben«, fürchtet Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg. Seine Sorge gilt den 650 000 Heizlüftern, die in diesem Jahr aus Angst vor einem kalten Winter mit extremen Heizungspreisen gekauft wurden. Schnell machen Not­fall-Ratschläge die Runde: Campingkocher für die warme Mahlzeit, batteriebetriebene Radiogeräte, Kerzen und Taschenlampen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat auch in Deutschland viel verändert – und Deutschland ist entschlossen, sich schnell noch mehr zu verändern.
 

Was lässt sich gegen Großstörungen in der Stromver­sorgung unternehmen? Forschende des Fraunhofer-In­stituts für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik IEE haben das gemeinsam mit den Universitäten Braun­schweig und Kassel, den vier Übertragungsnetzbetreibern in Deutschland, Verteilungsnetzbetreibern, Stromrich­ter-Herstellern, dem Forum für Netztechnik und Netz­betrieb im VDE und weiteren Partnern im Verbundprojekt »Netzregelung 2.0« untersucht. Das Team griff, neben an­deren Untersuchungen, als Worst-Case-Szenario auf einen realen Vorgang vom 4. November 2006 zurück. Damals trennte sich das zentraleuropäische Verbundnetz als Fol­ge einer Schalthandlung im Übertragungsnetz durch eine Kettenreaktion in drei Teile auf. Die Forschenden simu­lierten diese Störung nachträglich – und das unter er­schwerten Bedingungen. Es wurde deutlich mehr Strom transportiert. Die Problematik, mit der sich das Team be­schäftigte, erklärt Dr. Philipp Strauß, stellvertretender Leiter des Fraunhofer IEE: »In konventionellen Kraftwer­ken rotieren große Generatoren, die eine mechanische Trägheit haben. Tritt eine Störung auf oder schaltet sich ein Kraftwerk unerwartet ab, drehen sich diese Schwung­massen zunächst weiter, sie lassen sich nicht auf einen Schlag bremsen. Das wiederum spiegelt sich als elektri­sche Trägheit im Netz wider, die Störungen ausgleicht.« Erneuerbare Stromerzeuger sind heute größtenteils über Stromrichter mit dem Netz verbunden, welche keine Träg­heit bereitstellen. Sie sollen die eingespeiste Energie an die vorgegebene Spannung und Frequenz des Netzes an­passen – bei einer Photovoltaik-Solaranlage beispiels­weise wandelt der Stromrichter den erzeugten Gleichstrom in den netzüblichen Wechselstrom. Fraunhofer-Forschen­de arbeiten jetzt daran, die Stromrichter digital so zu re­geln, dass sie sich künftig ähnlich verhalten wie rotie­rende Generatoren. Dazu wird der Stromrichter so eingestellt, dass er im Falle einer Leistungsschwankung zunächst einmal  weitermacht wie bisher und hierdurch seine Momentan­reserve aktiviert, die das Netz stabilisiert.

»Wir wollten herausfinden, wie diese Stromrichter im Verbundnetz zu regeln sind: Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, große Netzstörungen damit aufzufangen?«, erläutert Strauß, der das gesamte Projekt am Fraunhofer IEE koordiniert. Kann die Technologie leisten, was die Forschenden sich erhofft haben, und Deutschlands Net­ze ausreichend stabilisieren? »Diese Frage ist eindeutig mit Ja zu beantworten: Mit einer entsprechenden Rege­lung sind sogar reine Stromrichtersysteme möglich – sie können selbst im Worst Case den gewünschten Beitrag leisten«, freut sich der Forscher. Auch kann die neue Regelung mit den bestehen­den koexistieren – ein wichtiger Punkt, wenn erneuerbare Energien die fossilen Kraftwerke Schritt für Schritt ablösen. Auch haben die Forschenden die nötigen Regelver­fahren zur Spannungsstabilisie­rung entworfen. Im Bereich der Höchstspannung sowie bei größe­ren Stromrichtern im Übertra­gungsnetz werden solche netzbil­denden Stromrichter mit digitaler elektrischer Trägheit bereits gefor­dert. Was das Verteilnetz angeht – wo sie ebenfalls integriert werden sollen – besteht allerdings noch Forschungsbedarf. Knifflig ist hier unter anderem das Zusammenspiel mit der bestehenden Schutztechnik, schließlich sollen die neuen Stromrichter keine neuen Probleme hervorrufen.

Dr. Philipp Strauß, Fraunhofer IEE
© Fraunhofer / Jonas Ratermann
Kann die Technologie Deutschlands Netze ausreichend stabilisieren? »Diese Frage ist eindeutig mit Ja zu beantworten: Mit einer entsprechenden Regelung sind sogar reine Stromrichtersysteme möglich – sie können selbst im Worst Case den gewünschten Beitrag leisten.« Dr. Philipp Strauß, Fraunhofer IEE

Ohne Digitalisierung ist die Energiewende nicht zu schaffen

Nicht allein im Bereich der Netzstabilität macht Digita­lisierung Hoffnung. Sie gilt vielen als der Schlüssel, um die Energiewende zu schaffen, mehr Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern zu bringen und die Klima­katastrophe zu mildern. »Zwar hat die Digitalisierung in den verschiedenen Netzebenen deutlich an Fahrt aufge­nommen, insbesondere in den Höchst- und Hochspan­nungsnetzen«, berichtet Dr. Marijke Welisch, Geschäfts­führerin des Fraunhofer Exzellenz-Clusters Integrierte Energiesysteme CINES. »Doch gerät das Thema über die Diskussion zu Preissteigerungen und Gaslieferproblemen ins Hintertreffen. Eine fatale Angelegenheit: Schließlich benötigt fast die gesamte Transformation des Energie­systems digitale Technologien – ohne eine umfassende Digitalisierung ist die Energiewende nicht rechtzeitig zu schaffen.« Einer der Gründe: Das Energiesystem wird durch Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Elektrofahr­zeuge und Co. sehr kleinteilig. Doch lassen sich die Netze nicht beliebig ausbauen, auch sind die Millionen von An­lagen – im Gegensatz zu den bisherigen wenigen großen Kraftwerken – kaum zu steuern ohne digitale Intelligenz, die die Randbedingungen prüft und die Signale aufteilt. Ein weiterer Knackpunkt ist die Zeit, die die Energiewen­de braucht: Viele Abläufe funktionieren nur schnell und effizient, wenn sie digital umgesetzt werden. »Zahlreiche neue Anlagen und Netzkomponenten müssen genehmigt werden. Landen die Anträge dafür jedoch als Fax auf dem Schreibtisch der Sachbearbeiten­den, ist das weder zeitgemäß noch zielführend. Auch hier ist eine Di­gitalisierung dringend nötig«, er­innert Manuel Wickert, Leiter der Forschungsdimension Digitalisie­rung im Cluster.

Dr. Marijke Welisch, Fraunhofer Exzellenz-Cluster »Integrierte Energiesysteme CINES«
© Fraunhofer / Jonas Ratermann
»Mit der Studie wollen wir einen Impuls für die politische Diskussion liefern, die Digitalisierung als einen wichtigen Teil der Energiewende zu betrachten.« Dr. Marijke Welisch, Fraunhofer Exzellenz-Cluster »Integrierte Energiesysteme CINES«

In der Studie »Digitalisierung des Energiesystems – 14 Thesen zum Erfolg«, die Ende September 2022 veröffentlicht wurde, haben die Forschenden des Clusters daher Thesen erarbeitet und für jede The­se Botschaften an die Politik sowie konkrete Handlungsempfehlungen für die Energiewirtschaft abgelei­tet. »Am Anfang stand eine Szena­rienanalyse: Wie könnte eine kom­plett digitalisierte Energiewelt in den nächsten fünf Jahren aussehen, wie eine vollständig analoge? Und wie eine, die den Sta­tus quo beibehält? Auf Basis dieser Szenarien haben wir die Trends aus Energiewirtschaft und Digitalisierung zu­sammengeführt und Schnittmengen gesucht«, erläutert Welisch. Fünf Themenschwerpunkte identifizierten die Forschenden auf diese Weise: Datenökonomie, Sektoren­kopplung, Anlagenkommunikation, Cybersecurity und Netzbetrieb/Netzplanung. Was die Datenökonomie an­geht, ist es für Netzbetreiber essentiell, ausreichend Daten zum Stromhandel als auch zur Planung zugehöriger Sys­temdienstleistungen wie der Regelreserve zu haben. Denn: Unsicherheit fördert die Kosten für den Ausgleich. These eins lautet daher: »Der Wert von Energie ist zukünftig abhängig von den verknüpften Daten«. Was damit gemeint ist, lässt sich am besten an einem Beispiel verstehen: So war bei der Sonnenfinsternis am 20. März 2015 unklar, wie sich dieses Naturschauspiel auf die Produktion des Solarstroms auswirken würde – es wurde daher teurer Ausgleichsstrom bereitgestellt. Je mehr Daten aus der Meteorologie und der Photovoltaik vorliegen, desto bes­ser und kostengünstiger lassen sich solche Ereignisse meistern. »Man sollte sich daher nicht allein auf Smart Meter als effiziente Datenquelle verlassen, sondern auch Cloud-Systeme von Anlagenherstellern in Erwägung ziehen«, erläutern die Forschenden weiter. Bei der Cyber­security befürworten die Wissenschaftlerinnen und Wis­senschaftler ebenfalls eine Neuerung. So gehe es nicht län­ger darum, ausnahmslos alle Energiesysteme schützen zu wollen; vielmehr gelte es, die Grundhaltung zu ändern: Statt auf umfassenden Schutz zu setzen, müssen die Sys­teme so designt werden, dass sie mit möglichen Störungen, Angriffen und Ausfällen besser umgehen können – und kritische Prozesse auch in schwierigen Situationen weiter­laufen. »Mit der Studie wollen wir einen Impuls für die politische Diskussion liefern, die Digitalisierung als einen wichtigen Teil der Energiewende zu betrachten«, fasst We­lisch zusammen. Und auf diese Weise der Energiewende in Deutschland einen weiteren, benötigten Anschub geben.

Tatsächlich wird neues Denken immer dringender gefordert, um Deutschlands Energiemarkt resilienter ge­genüber weltpolitischen Entwicklungen werden zu lassen – und natürlich auch, um den Klimawandel einzudäm­men. Mancher sieht im Rückblick einen Patienten Deutsch­land, der am Tropf Gas-Pipeline hängt. Für die Anamne­se schaffen die »Energy Charts« des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE den Überblick: Zugänglich über eine öffentliche Internetseite liefern sie, stündlich aktualisiert, wichtige Daten und interaktive Grafiken zu Stromproduktion, Börsenstrompreisen und Co. – und tragen damit dazu bei, die Diskussion um die Energie­wende transparenter und sachlicher zu gestalten. »Dafür nutzen wir die Daten von zehn Providern, unter anderem der Energiebörse Leipzig EEX, wo alle Übertragungsnetz­betreiber ihre Daten melden, sowie dem europäischen Pendant Verband Europäischer Übertragungsnetzbetrei­ber ENTSO-E«, erläutert Prof. Bruno Burger, der die »Ener­gy Charts« am Fraunhofer ISE geschaffen hat. So sind in der grafischen Darstellung des jährlichen Zu- und Rück­baus an installierter Netto-Leistung an Solarenergie in Deutschland deutlich der »Altmaier-Knick« und das »Ga­briel-Tief« zu sehen, wie der Forscher sie nennt: Wurden im Jahr 2011 noch 7,91 Gigawatt Nettoleistung in Deutsch­land neu installiert, waren es 2013 nur noch 3,7 Gigawatt, 2014 nur noch 1,19 Gigawatt. Anzeigen lassen kann man sich neben der Preisentwicklung von Strom und Gas auch den Anteil der erneuerbaren Energien am Strommix, die Verläufe des Stromverbrauchs und des -angebots pro Wo­che oder Jahr sowie den typischen Tagesverlauf bei Strom­erzeugung und -verbrauch.

Für den Strompreis berücksichtigen die Forschenden nicht nur die zurückliegenden und aktuellen Daten, son­dern prognostizieren auch die Zukunft. Grund zur Hoff­nung geben diese Prognosen wenig: Im Dezember 2022 wird der Strompreis voraussichtlich bei 51 Cent pro Kilo­wattstunde liegen, im ersten Quartal 2023 sogar bei 68 Cent. Selbst für das erste Quartal 2024 sind Strompreise von 43 Cent wahrscheinlich. Von Entspannung also keine Spur. »Wir haben die alten Bundesregierungen im­mer wieder darauf hingewiesen, dass ein Ausstieg aus Kernenergie und Kohle die erneuerbaren Energien als Ausgleich benötigt. Doch das Gas aus Russland war güns­tig. Um nun wieder richtig auf Kurs zu kommen, brauchen wir mindestens bis 2030 – die jetzige Bundesregierung kann das nicht in einer Legislaturperiode geradebiegen«, sagt der Forscher.

 

Prof. Bruno Burger, Fraunhofer ISE
© Fraunhofer / Jonas Ratermann
»Das Gas aus Russland war günstig. Um nun wieder richtig auf Kurs zu kommen, brauchen wir mindestens bis 2030.« Prof. Bruno Burger, Fraunhofer ISE

Smarte Beschichtungen halten je nach Saison die Wärme draußen oder lassen sie ins Haus

Eingesparte Energie muss nicht teuer bezahlt werden. Neue Technologien schaffen da ganz neue Möglichkeiten – smarte Fenster etwa, die die Wärmestrahlung der Sonne im Sommer draußen halten und somit die Notwendigkeit von Klimaanlagen reduzieren, im Winter jedoch die Wär­mestrahlung der Sonne durchlassen, sodass nicht so stark geheizt werden muss. Solche thermo- oder elektrochro­men Beschichtungen können den Kühl- und Heizenergie­bedarf eines Gebäudes um zehn, in Extremfällen sogar um bis zu 60 Prozent reduzieren. Die Basis dafür entwi­ckeln Forschende des Fraunhofer-Instituts für Organische Elektronik, Elektronenstrahl- und Plasmatechnik FEP gemeinsam mit Partnern. »Im EU-Projekt Switch2Save konnten wir gemeinsam mit unseren Partnern der West­böhmischen Universität in Pilsen erstmals thermochrome Beschichtungen aus Vanadiumdioxid auf Dünnstglas im Pilotmaßstab herstellen – über das Rolle-zu-Rolle-Ver­fahren«, freut sich Dr. Cindy Steiner, Gruppenleiterin am Fraunhofer FEP. »Damit haben wir einen wichtigen Schritt in der Skalierung der Technologie geschafft!«

Was die thermochrome Beschichtung für Fenster ist, ist die programmierbare Wärmedämmung aus dem Fraun­hofer Cluster of Excellence Programmierbare Materialien CPM für Fassaden: Die Außenhülle des Hauses reagiert auf die Außentemperatur. Denn diese Dämmung beruht auf einem Schaum, der temperaturabhängig seine Form ändert – so öffnet er bei hohen Temperaturen seine Poren und dehnt sich aus, während er nachts in komprimierter Form frische Luft durch Öffnungen der hinterlüfteten Fassade zirkulieren lässt. Über den Herstellungsprozess kann eingestellt werden, auf welche Weise der Schaum seine Form ändert und bei welcher Temperatur er das tut. Das Besondere daran: Der Vorgang ist reversibel, der Schaum kann seine Poren also immer wieder öffnen und schließen. »Vor allem bei der Kühlung macht das einen massiven Unterschied: Man könnte dabei bis zu 40 Pro­zent Energie sparen«, sagt Dr. Susanne Lehmann-Brauns, deren Gruppe im Fraunhofer CPM an solchen program­mierbaren Materialien arbeitet.

Größere Auswirkungen als in Privathaushalten haben Sparmaßnahmen jedoch in Unternehmen: Während Haus­halte nur 26 Prozent des Stroms in Deutschland verbrau­chen, gehen 44 Prozent an die Industrie. Was die dortigen Möglichkeiten zum Stromsparen angeht, kann eine Ent­wicklung des Fraunhofer-Instituts für System- und Inno­vationsforschung ISI weiterhelfen: Die Forschenden leis­ten seit 2009 die Vorarbeit, die jetzt dabei hilft, Lösungen schnell umzusetzen. »Wir haben bereits vor 13 Jahren 30 Pilotnetzwerke ins Leben gerufen. In diesen schließen sich in der Regel jeweils acht bis 15 Unternehmen sowie ein technischer Energieberater für zwei bis drei Jahre zu­sammen – mit dem Ziel, Energieeffizienzmaßnahmen im Bereich Heizung/Kühlung, Beleuchtung, Druckluft, Op­timierung von Prozessen oder betrieblichen Abläufen etc. umzusetzen und somit ein konkretes Einsparziel zu er­reichen«, erläutert Lisa Neusel, wissenschaftliche Mitar­beiterin am Fraunhofer ISI. Die Basis dafür bildet das im Rahmen der Pilotphase der »Lernenden EnergieEffizienz- Netzwerke« am Fraunhofer ISI entwickelte Netzwerkma­nagement-Konzept: ein einheitlicher Standard, über den sich die Erfolge der Netzwerke in puncto Energieeinspa­rung wissenschaftlich vergleichen lassen. So erhebt das dafür entwickelte Tool beispielsweise, wie viel CO2 durch die Maßnahmen eingespart wurde, in welcher Kategorie diese Maßnahmen einzuordnen sind und wie viel sie ge­kostet haben. Wichtig für den Erfolg ist vor allem der mo­derierte Austausch der Unternehmen. »Über den regel­mäßigen Peer-to-Peer-Austausch lernen die Betriebe, wo sie Energie einsparen können«, fasst Neusel zusammen.

Das überzeugende Netzwerk-Konzept des Fraunhofer ISI griff der Bund auf – und rief im Jahr 2014 gemeinsam mit 22 Verbänden und Organisationen der Wirtschaft die »Initiative Energieeffizienz- und Klimaschutz-Netzwer­ke« ins Leben. Mittlerweile gehören ihr 346 Netzwerke mit über 3000 Unternehmen an. Die Umsetzungen der Initiative werden dabei seit 2014 durch ein jährliches frei­williges Monitoring durch das Fraunhofer ISI und das Forschungs- und Beratungsinstitut adelphi begleitet.

Aktueller denn je sind dabei für die Initiative auch Antworten auf die drängende Frage der schnellen Stromsparmaßnahmen: Kurzfristig realisierbare, praxisnahe und gering-investive Maßnahmen helfen den Unterneh­men in einem Zeitraum von unter vier Wochen, ihren Energieverbrauch zu senken und Energiekostensteige­rungen abzumildern. »Hier bietet sich vor allem eine Änderung des Verbrauchsverhaltens an – also Maßnah­men, die ohne großen Invest möglich sind«, erläutert Prof. Clemens Rohde, Geschäftsfeldleiter am Fraunhofer ISI. Je nach Unternehmen sind um die fünf Prozent Einspa­rung – so Rohdes Hypothese – kurzfristig zu holen. »Mit­telfristig«, sagt Rohde, »müssen sich die Unternehmen jedoch strategisch mit dem Thema auseinandersetzen. Wir haben uns lange gefragt, wie man das Thema Ener­gieeffizienz in den Vorstandsebenen verankert. Das hat jetzt leider Putin für uns erledigt: Energie ist von einem klassischen Nebenthema irgendwo in der Ecke zu einem strategisch wichtigen Thema geworden.«

Strom zu sparen wird wichtig. Vielleicht noch wichtiger wird es werden, den erzeugten Strom möglichst gleich­mäßig zu nutzen. Dies bringt gleich einen doppelten Vorteil: Es wirkt sich nicht nur positiv auf die Bilanz des Unternehmens aus, sondern auch auf die Netzstabili­tät. Schließlich ist das Netz keineswegs ein Freund von Schwankungen. Genau diese allerdings rufen Wind- und Sonnenenergie hervor. Ein Ausbau der Flexibilisierung in puncto Energiebedarf bietet – zumindest teilweise – eine Lösung.

 

Dafür braucht es Anreize. Einen bieten die Regelener­giemärkte: Groß-Energieverbraucher wie Aluminium- oder Papierhersteller können viel Geld sparen, wenn sie ihre Anlagen konform den netzbedingten Notwendig­keiten an- oder ausschalten – und das Stromnetz auf die­se Weise stabilisieren. Dafür müssen jedoch zum einen die Unternehmen wissen, welche Flexibilitätsmöglich­keiten in ihrem Betrieb bestehen, zweitens müssen Netz­betreiber und Unternehmen miteinander kommunizieren. Möglich macht es eine Energiesynchronisationsplattform, die Forschende des Fraunhofer-Instituts für Produktions­technik und Automatisierung IPA gemeinsam mit Part­nern im Projekt SynErgie entwickelt haben. »Wir haben die Plattform einmal für produzierende Unternehmen konzipiert, einmal für die Vermittlung von Dienstleis­tungen der Marktseite«, fasst Can Kaymakci zusammen, Wissenschaftler am Fraunhofer IPA. Auf der Unterneh­mensseite zeigt die Plattform den Firmen verschiedene Energieflexibilitätsmaßnamen auf: Sie integriert die Da­ten der Maschinen, identifiziert dynamisch Energiefle­xibilitäten in Produktionsprozessen und -infrastruktur und kommuniziert diese standardisiert. Zwar können diese Prozesse vollautomatisiert ablaufen, die Tendenz der Unternehmen geht jedoch dahin, die letzte Instanz beim Menschen zu belassen. Es lassen sich Produktionsstarts verschieben, Ma­schinenbelegungspläne oder Arbeitszeiten anpassen.

Can Kaymakci, Fraunhofer IPA.
© Fraunhofer / Jonas Ratermann
Energieflexibilitäten smart managen: Can Kaymakci vom Fraunhofer IPA hat hierfür im Projekt SynErgie eine Plattform entwickelt.

Zusätzlich können technische Energieflexibilitätsmaß­nahmen wie der Wechsel von Energieträgern oder die in­heränte Speicherung in Prozessen implementiert werden. Aber auch die Infrastruktur mit Themen wie Druckluft oder Raumklimatisierung lässt sich flexibel steuern. »Viel Potenzial besteht vor allem in der Kälte- und Wärmeerzeu­gung. So lässt sich ein Ofen abhängig vom Strompreis et­wa mit Gas beziehungsweise Wasserstoff oder mit Strom betreiben, die Umstellung kann dabei während des Be­triebs erfolgen«, sagt Kaymakci. Ein weiteres Beispiel: Herrscht ein Überangebot an Strom, kann ein Ofen viel­leicht auch eine Weile mit der vollen Leistung auf eine höhere Temperatur geheizt werden und später bei höherem Strompreis von der hohen Temperatur zehren. Die ent­sprechenden Services, die solche Lastkurven optimieren, sind ebenfalls in der Plattform integriert. »Die zentrale Datenbasis sowie die Funktionalitäten der Services sind standardisiert – doch gibt es für jeden Prozess unterschied­liche Services, die zudem an die Unternehmen angepasst werden«, veranschaulicht Kaymakci.

In einem weiteren Schritt haben die For­schenden die Marktseite beleuchtet. »In der Markt­plattform finden die Unter­nehmen verschiedene Ver­marktungsmöglichkeiten für ihre Flexibilitäten«, sagt Kaymakci. Transak­tionen laufen über die Plattform nicht ab, auch gibt es dort keine Daten- oder Energieflüsse – vielmehr gleicht sie einer Art Gelbe Seiten. Denn: Selbst große Unternehmen agieren nicht selber am Energiemarkt; dies übernehmen Vermarkter oder Aggregatoren, die die Energieflexibilitäten zahlrei­cher Firmen als »virtuelle Kraftwerke« zusammenschlie­ßen und auf den Energiemärkten anbieten. Über die Markt­plattform können Unternehmen und Vermarkter auf einfache Art und Weise zusammenfinden.

 

Mit gezielten Anreizen das Energie-Einsparpotenzial in der Wirtschaft heben

Doch wie wirkungsvoll ist eine solche Lösung? »Allein mit den Industrien und Branchen in unserem Konsor­tium könnten wir die Last der Energienetze für 15 Minu­ten um 10,7 Gigawatt reduzieren oder um neun Gigawatt erhöhen. Insgesamt haben wir also ein Potenzial von 19,7 Gigawatt – und das entspricht immerhin 5620 Onshore-Windanlagen oder 540 der größten Photovoltaik-Anlagen in Deutschland. Unser System kann das Stromnetz somit sehr stark entlasten«, sagt Kaymakci. Die technischen Voraussetzungen sind geschaffen – jetzt geht es darum, dieses Potenzial zu heben. Und zwar durch regulatorische Anreize. Auch hier sind die Forschenden des Fraunhofer IPA aktiv: Als Wirtschaftsminister Habeck den Energie­markt wieder mehr ins Scheinwerferlicht holte, erstellten die Forschenden ein begleitendes Paper dazu, die Arbei­ten im Bereich der Regulatorik tragen erste Früchte mit der dritten Novelle des Energiesicherungsgesetzes.

Die Grundidee der Flexibilität und der Vernetzung wirkt auch im Kleinen, um neue Sicherheit selbst in schwie­rigen Zeiten zu schaffen. Erhebliches Potenzial bieten bei­spielsweise Elektrofahrzeuge – schließlich können sie nicht nur für sich selbst Energie speichern, sondern auch zu Akkus werden, die Netzschwankungen ausgleichen. Interessant ist das nicht nur für die Netzbetreiber, son­dern auch für Besitzerinnen und Besitzer von E-Autos. So verdienten sie in einem einjährigen Testlauf in Däne­mark durchschnittlich 1300 Euro durch das antizyklische Einspeisen von Strom ins Energienetz. Noch sind den Be­sitzern von E-Autos dabei allerdings vielfach die Hände gebunden, denn nö­tig dafür sind bidirektional ladbare E-Autos. Erste Mo­delle kommen gerade auf den Markt. »Damit die Elektrofahrzeuge Teil eines intelligenten Stromnetzes werden können, müssen die Netzbetreiber wissen, wie viele Autos wann in welchem Ausmaß be- oder entladen werden dürfen«, weiß Oliver Warweg, Gruppenleiter am Institutsteil An­gewandte Systemtechnik AST des Fraunhofer IOSB. »Wenn sie jedes Fahrzeug getrennt ansteuern müssen, ist das mit enormen Kosten verbunden.« Kosten, die den derzeitigen Wert noch nicht widerspiegeln. In mehreren Projekten arbeiten die Fraunhofer-Forschenden daher daran, die Kommunikation zu den Fahrzeugen zu bündeln und die Kosten zu senken.

So etwa im Projekt »Shared Area Charging«: Ein Park­platz für Mehrgeschosswohnungen soll mit 40 Ladesta­tionen ausgestattet und als virtueller Speicher betrachtet werden. Langfristig könnten mehrere solcher virtuellen Speicher zusammengefasst und aggregiert von den Ener­gieversorgern angesprochen werden. Möglich machen soll es eine App, über die Fahrzeugbesitzer Angaben zum benötigten Ladezustand ihres Autos eingeben können. Die Forschenden des Fraunhofer IOSB-AST nutzen die Informationen aus der App für die Betriebsführung und entwickeln die nötigen Algorithmen für den Zusammen­schluss zahlreicher Fahrzeuge. »Dazu gehören beispiels­weise Vorhersagemodelle, mit denen sich planen lässt, wann welche Fahrzeuge verfügbar sind und wie groß ihre Speicherkapazität ist. Zudem arbeiten wir daran, die entstehende Flexibilität in das Marktangebot zu integ­rieren, also die theoretisch berechnete Flexibilität auf­zuteilen auf die einzelnen, tatsächlich verfügbaren Fahr­zeuge.« Erste Demo-Quartiere sind in Suhl in Thüringen realisiert, ein größeres ist in Erfurt geplant, auch das Sha­red AC-Quartier ist im Aufbau. Dabei handelt es sich nicht um ein geschlossenes Labor, sondern um ein Projekt, das im Realleben durchgeführt wird – und das nun Schritt für Schritt der Vision entgegenwächst.

 

Energiesystem mit eigenem »Bewusstsein«?

Der Vision entgegen wächst auch der Anteil an Solar­energie: Um für den Winter gewappnet zu sein, instal­lieren zahlreiche Menschen Photovoltaikanlagen auf den Dächern ihrer Häuser – der Markt ist geleert. Doch wird das Energiesystem mit jeder PV-Anlage und mit jedem als Stromspeicher eingebundenen Elektroauto dezentraler und komplexer. Und damit auch wesentlich schwie­riger zu managen. »Er­zeugung und Verbrauch sind nicht mehr so leicht zu matchen wie bisher«, bestätigt André Baier, Projektleiter am Fraun­hofer IEE. »Vielmehr ist eine hochgradige Automatisierung samt Künstlicher Intelligenz nötig, um die künftigen komplexen Prozesse in Echtzeit aufeinander abzustimmen.« Ähnlich sieht das der Bundesverband für Energie und Wasserwirtschaft BDEW: Er möchte die Energiewirtschaft zum Leitmarkt für Künstliche Intelligenz machen. Ein Leitsatz, den sich auch das Fraunhofer IEE auf die Fahnen geschrieben hat.

So bringt es seine Expertise unter anderem in die For­schungsinitiative IC4CES ein, neben weiteren Akteuren aus Forschung, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Die Vision: Das Energiesystem soll ein eigenes Bewusstsein für den Zustand seiner Anlagen erhalten, sodass es diese künftig autonom regeln kann. »Mithilfe der Künstlichen Intelligenz wollen wir kognitive Energiesysteme ermög­lichen, die wiederum dafür sorgen, dass die Energiever­sorgung auf Basis erneuerbarer Energien möglich, sicher und erschwinglich ist«, sagt Baier. Drei Schwerpunkte neh­men sich die Forscher dabei vor. Zum einen die Kognitiven Energienetze – also Energienetze, die in der immer kom­plexer werdenden Lage die Sicherheit weiterhin gewähr­leisten können und dabei idealerweise nicht mehr Kosten verursachen. Zum zweiten die kognitive Energiesystem­technik und damit alles, was ans Netz angeschlossen wird, etwa Wechselrichter, die PV-Anlagen selbst sowie die Ener­gieverbraucher. Und drittens die kognitive Energiewirt­schaft: Wie lassen sich die fluktuierenden, dezentral er­zeugten Energiemengen vermarkten? Wie müssen neue Geschäftsmodelle aussehen, etwa die Interaktion zwischen Verbraucher oder Erzeuger und Stadtwerken?

Was die Künstliche Intelligenz leisten kann, legten die Forschenden unter anderem am Beispiel des Energie­handels dar, genauer gesagt der Vermarktung von Wind­energie. »Wir konnten zeigen: Künstliche Intelligenz schafft es, die erzeugte Energie automatisiert am Markt zu plat­zieren. Dabei erzielt sie ähnlich gute Ergebnisse wie ein menschlicher Verkäufer, zum Teil sogar bessere«, konsta­tiert Baier. Das Forscherteam nutzt dazu verschiedene Ansätze von Künstlicher Intelligenz: Beim überwachten Lernen basieren die Entscheidungen des Systems auf ei­nem Satz von geregelten Daten, mit denen es ange­lernt wird; sinnvoll ist das etwa beim Erstellen von Prognosen von Wind- und Solarenergie. Beim Rein­forcement Learning dage­gen bewegt sich das System in einer fest vorgegebenen Umgebung. Das können beispielsweise verschiede­ne Stromleitungen sein, die mit einer bestimmten Aus­lastung betrieben werden. Fällt eine Leitung aus, er­kennt das System dies und versucht, die entsprechen­de Energiemenge sinnvoll auf andere Leitungen zu ver­teilen. Ist dies nicht möglich, müssen einzelne Anlagen ausgeschaltet oder heruntergeregelt werden – auch hier gibt es Ansätze, dies KI-basiert zu tun. Während die Künst­liche Intelligenz für Prognosen bereits einsatzfähig ist, braucht es für die automatisierte Netzsteuerung noch Forschungsarbeit. Denn: Aktuell sind KI-Lösungen noch Black-Box-Modelle – die Forschenden wissen also nicht, wie die Künstliche Intelligenz zu ihren Entscheidungen kommt. Gemeinsam mit der Universität Kassel wollen sie dies in den nächsten Jahren ändern. Das Bewusstsein für Energie ist gewachsen. Jetzt entsteht auch ein Bewusst­sein im Energiesystem.    

Platz da! Wohin mit Solarmodulen und Windrädern?

Deutschland hat sich in puncto Ener­giewende ehrgeizige Ziele gesetzt – Photovoltaik (PV) und Windkraft sind die entscheidenden Säulen. Die defi­nierten Ausbauziele, was die Photovol­taik angeht, liegen bei einer Leistung von 400 Gigawatt Peak im Jahr 2040. Da stellen sich mehrere Fragen: Bekom­men wir die dafür benötigte Menge an PV-Modulen unter, und wenn ja wo? Und das mit möglichst wenig Konflik­ten und hoher Akzeptanz? 

»Ja«, meint Dr. Harry Wirth, Bereichsleiter Photo­voltaische Module und Kraftwerke am Fraunhofer-Institut für Solare Energie­systeme ISE, »und zwar über integrierte Photovoltaik. Und nicht nur das: Die in­tegrierte Photovoltaik bietet in zahlrei­chen Anwendungen interessante Syn­ergien.« So etwa in der Landwirtschaft: Angebracht auf Ständern über dem Feld, beschatten die Solarmodule die Pflanzen ein Stück weit und schützen sie vor Starkwetterereignissen. Wie viel Licht hindurchkommt, wie sich die ver­schiedenen Pflanzenkulturen unter den Modulen entwickeln und wie sich die Photovoltaik auf die Erträge aus­wirkt, ermitteln die Forschenden via Simulationen. 

Auch schwimmende PV-Kollektoren untersuchen die Wis­senschaftlerinnen und Wissenschaftler: Die Module könnten Baggerseen und künstliche Seen vor Überhitzung und zu viel Verdunstung schützen, auch wird der Wellenschlag reduziert, was Vorteile für das Ufer bietet. Fassaden bieten ebenfalls viel Platz: Bisher wer­den sie jedoch nur sehr selten für die Erzeugung von Solarstrom genutzt. Mit der Beschichtung »MorphoColor®« aus dem Fraunhofer ISE sind die Solar­module dabei gar nicht mehr als solche zu erkennen – stattdessen erstrahlen sie in brillanten Farben.

Platzprobleme gibt es auch dort, wo man sie gar nicht vermuten würde: bei Offshore-Windanlagen im Meer. Schließlich gilt es auch Naturschutzge­biete, Schifffahrtsstraßen und Co. ent­sprechend zu berücksichtigen. »Es gibt kein anderes Land, das verhältnis­mäßig so große Ziele und so wenig Offshore-Windenergiefläche zur Ver­fügung hat wie Deutschland«, sagt Dr. Martin Dörenkämper, Gruppenleiter am Fraunhofer-Institut für Windener­giesysteme IWES. »Die derzeit verfüg­baren Flächen könnten zwischen 50 und 60 Gigawatt Peak Leistung bringen, gebraucht werden für die politischen Ausbauziele mindestens 70 GW.« Im Forschungsprojekt X-Wakes simulie­ren die Forschenden vom Fraunhofer IWES die Windströmungen unter ver­schiedenen Bedingungen. Dafür nut­zen sie auch ein klassisches Wettermo­dell, das für die Darstellung der Windparks erweitert wurde.