Zusätzlich können technische Energieflexibilitätsmaßnahmen wie der Wechsel von Energieträgern oder die inheränte Speicherung in Prozessen implementiert werden. Aber auch die Infrastruktur mit Themen wie Druckluft oder Raumklimatisierung lässt sich flexibel steuern. »Viel Potenzial besteht vor allem in der Kälte- und Wärmeerzeugung. So lässt sich ein Ofen abhängig vom Strompreis etwa mit Gas beziehungsweise Wasserstoff oder mit Strom betreiben, die Umstellung kann dabei während des Betriebs erfolgen«, sagt Kaymakci. Ein weiteres Beispiel: Herrscht ein Überangebot an Strom, kann ein Ofen vielleicht auch eine Weile mit der vollen Leistung auf eine höhere Temperatur geheizt werden und später bei höherem Strompreis von der hohen Temperatur zehren. Die entsprechenden Services, die solche Lastkurven optimieren, sind ebenfalls in der Plattform integriert. »Die zentrale Datenbasis sowie die Funktionalitäten der Services sind standardisiert – doch gibt es für jeden Prozess unterschiedliche Services, die zudem an die Unternehmen angepasst werden«, veranschaulicht Kaymakci.
In einem weiteren Schritt haben die Forschenden die Marktseite beleuchtet. »In der Marktplattform finden die Unternehmen verschiedene Vermarktungsmöglichkeiten für ihre Flexibilitäten«, sagt Kaymakci. Transaktionen laufen über die Plattform nicht ab, auch gibt es dort keine Daten- oder Energieflüsse – vielmehr gleicht sie einer Art Gelbe Seiten. Denn: Selbst große Unternehmen agieren nicht selber am Energiemarkt; dies übernehmen Vermarkter oder Aggregatoren, die die Energieflexibilitäten zahlreicher Firmen als »virtuelle Kraftwerke« zusammenschließen und auf den Energiemärkten anbieten. Über die Marktplattform können Unternehmen und Vermarkter auf einfache Art und Weise zusammenfinden.
Mit gezielten Anreizen das Energie-Einsparpotenzial in der Wirtschaft heben
Doch wie wirkungsvoll ist eine solche Lösung? »Allein mit den Industrien und Branchen in unserem Konsortium könnten wir die Last der Energienetze für 15 Minuten um 10,7 Gigawatt reduzieren oder um neun Gigawatt erhöhen. Insgesamt haben wir also ein Potenzial von 19,7 Gigawatt – und das entspricht immerhin 5620 Onshore-Windanlagen oder 540 der größten Photovoltaik-Anlagen in Deutschland. Unser System kann das Stromnetz somit sehr stark entlasten«, sagt Kaymakci. Die technischen Voraussetzungen sind geschaffen – jetzt geht es darum, dieses Potenzial zu heben. Und zwar durch regulatorische Anreize. Auch hier sind die Forschenden des Fraunhofer IPA aktiv: Als Wirtschaftsminister Habeck den Energiemarkt wieder mehr ins Scheinwerferlicht holte, erstellten die Forschenden ein begleitendes Paper dazu, die Arbeiten im Bereich der Regulatorik tragen erste Früchte mit der dritten Novelle des Energiesicherungsgesetzes.
Die Grundidee der Flexibilität und der Vernetzung wirkt auch im Kleinen, um neue Sicherheit selbst in schwierigen Zeiten zu schaffen. Erhebliches Potenzial bieten beispielsweise Elektrofahrzeuge – schließlich können sie nicht nur für sich selbst Energie speichern, sondern auch zu Akkus werden, die Netzschwankungen ausgleichen. Interessant ist das nicht nur für die Netzbetreiber, sondern auch für Besitzerinnen und Besitzer von E-Autos. So verdienten sie in einem einjährigen Testlauf in Dänemark durchschnittlich 1300 Euro durch das antizyklische Einspeisen von Strom ins Energienetz. Noch sind den Besitzern von E-Autos dabei allerdings vielfach die Hände gebunden, denn nötig dafür sind bidirektional ladbare E-Autos. Erste Modelle kommen gerade auf den Markt. »Damit die Elektrofahrzeuge Teil eines intelligenten Stromnetzes werden können, müssen die Netzbetreiber wissen, wie viele Autos wann in welchem Ausmaß be- oder entladen werden dürfen«, weiß Oliver Warweg, Gruppenleiter am Institutsteil Angewandte Systemtechnik AST des Fraunhofer IOSB. »Wenn sie jedes Fahrzeug getrennt ansteuern müssen, ist das mit enormen Kosten verbunden.« Kosten, die den derzeitigen Wert noch nicht widerspiegeln. In mehreren Projekten arbeiten die Fraunhofer-Forschenden daher daran, die Kommunikation zu den Fahrzeugen zu bündeln und die Kosten zu senken.
So etwa im Projekt »Shared Area Charging«: Ein Parkplatz für Mehrgeschosswohnungen soll mit 40 Ladestationen ausgestattet und als virtueller Speicher betrachtet werden. Langfristig könnten mehrere solcher virtuellen Speicher zusammengefasst und aggregiert von den Energieversorgern angesprochen werden. Möglich machen soll es eine App, über die Fahrzeugbesitzer Angaben zum benötigten Ladezustand ihres Autos eingeben können. Die Forschenden des Fraunhofer IOSB-AST nutzen die Informationen aus der App für die Betriebsführung und entwickeln die nötigen Algorithmen für den Zusammenschluss zahlreicher Fahrzeuge. »Dazu gehören beispielsweise Vorhersagemodelle, mit denen sich planen lässt, wann welche Fahrzeuge verfügbar sind und wie groß ihre Speicherkapazität ist. Zudem arbeiten wir daran, die entstehende Flexibilität in das Marktangebot zu integrieren, also die theoretisch berechnete Flexibilität aufzuteilen auf die einzelnen, tatsächlich verfügbaren Fahrzeuge.« Erste Demo-Quartiere sind in Suhl in Thüringen realisiert, ein größeres ist in Erfurt geplant, auch das Shared AC-Quartier ist im Aufbau. Dabei handelt es sich nicht um ein geschlossenes Labor, sondern um ein Projekt, das im Realleben durchgeführt wird – und das nun Schritt für Schritt der Vision entgegenwächst.
Energiesystem mit eigenem »Bewusstsein«?
Der Vision entgegen wächst auch der Anteil an Solarenergie: Um für den Winter gewappnet zu sein, installieren zahlreiche Menschen Photovoltaikanlagen auf den Dächern ihrer Häuser – der Markt ist geleert. Doch wird das Energiesystem mit jeder PV-Anlage und mit jedem als Stromspeicher eingebundenen Elektroauto dezentraler und komplexer. Und damit auch wesentlich schwieriger zu managen. »Erzeugung und Verbrauch sind nicht mehr so leicht zu matchen wie bisher«, bestätigt André Baier, Projektleiter am Fraunhofer IEE. »Vielmehr ist eine hochgradige Automatisierung samt Künstlicher Intelligenz nötig, um die künftigen komplexen Prozesse in Echtzeit aufeinander abzustimmen.« Ähnlich sieht das der Bundesverband für Energie und Wasserwirtschaft BDEW: Er möchte die Energiewirtschaft zum Leitmarkt für Künstliche Intelligenz machen. Ein Leitsatz, den sich auch das Fraunhofer IEE auf die Fahnen geschrieben hat.
So bringt es seine Expertise unter anderem in die Forschungsinitiative IC4CES ein, neben weiteren Akteuren aus Forschung, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Die Vision: Das Energiesystem soll ein eigenes Bewusstsein für den Zustand seiner Anlagen erhalten, sodass es diese künftig autonom regeln kann. »Mithilfe der Künstlichen Intelligenz wollen wir kognitive Energiesysteme ermöglichen, die wiederum dafür sorgen, dass die Energieversorgung auf Basis erneuerbarer Energien möglich, sicher und erschwinglich ist«, sagt Baier. Drei Schwerpunkte nehmen sich die Forscher dabei vor. Zum einen die Kognitiven Energienetze – also Energienetze, die in der immer komplexer werdenden Lage die Sicherheit weiterhin gewährleisten können und dabei idealerweise nicht mehr Kosten verursachen. Zum zweiten die kognitive Energiesystemtechnik und damit alles, was ans Netz angeschlossen wird, etwa Wechselrichter, die PV-Anlagen selbst sowie die Energieverbraucher. Und drittens die kognitive Energiewirtschaft: Wie lassen sich die fluktuierenden, dezentral erzeugten Energiemengen vermarkten? Wie müssen neue Geschäftsmodelle aussehen, etwa die Interaktion zwischen Verbraucher oder Erzeuger und Stadtwerken?
Was die Künstliche Intelligenz leisten kann, legten die Forschenden unter anderem am Beispiel des Energiehandels dar, genauer gesagt der Vermarktung von Windenergie. »Wir konnten zeigen: Künstliche Intelligenz schafft es, die erzeugte Energie automatisiert am Markt zu platzieren. Dabei erzielt sie ähnlich gute Ergebnisse wie ein menschlicher Verkäufer, zum Teil sogar bessere«, konstatiert Baier. Das Forscherteam nutzt dazu verschiedene Ansätze von Künstlicher Intelligenz: Beim überwachten Lernen basieren die Entscheidungen des Systems auf einem Satz von geregelten Daten, mit denen es angelernt wird; sinnvoll ist das etwa beim Erstellen von Prognosen von Wind- und Solarenergie. Beim Reinforcement Learning dagegen bewegt sich das System in einer fest vorgegebenen Umgebung. Das können beispielsweise verschiedene Stromleitungen sein, die mit einer bestimmten Auslastung betrieben werden. Fällt eine Leitung aus, erkennt das System dies und versucht, die entsprechende Energiemenge sinnvoll auf andere Leitungen zu verteilen. Ist dies nicht möglich, müssen einzelne Anlagen ausgeschaltet oder heruntergeregelt werden – auch hier gibt es Ansätze, dies KI-basiert zu tun. Während die Künstliche Intelligenz für Prognosen bereits einsatzfähig ist, braucht es für die automatisierte Netzsteuerung noch Forschungsarbeit. Denn: Aktuell sind KI-Lösungen noch Black-Box-Modelle – die Forschenden wissen also nicht, wie die Künstliche Intelligenz zu ihren Entscheidungen kommt. Gemeinsam mit der Universität Kassel wollen sie dies in den nächsten Jahren ändern. Das Bewusstsein für Energie ist gewachsen. Jetzt entsteht auch ein Bewusstsein im Energiesystem.