Wie kann Forschung helfen, die Herausforderungen zu meistern?
Es ist klar, dass wir für die Energiewende neue Technologien brauchen. Auch zum Beispiel bei der Bewältigung des Klimawandels spielt die Forschung eine zentrale Rolle. Derzeit beschäftigt uns alle der Krieg in der Ukraine. Dabei kommt es vor allem auf entschlossene und verantwortungsvolle Politik an. Wenn man an die Abwehr von Cyberangriffen oder an die Sicherheit kritischer Infrastruktur denkt, spielt die Forschung eine wichtige Rolle. Ich war vor meiner Wahl zur Bundestagspräsidentin als stellvertretende Vorsitzende meiner SPD-Bundestagsfraktion zuständig für die Themen Gesundheit, Petitionen, Bildung und Forschung. Daher weiß ich natürlich, dass auch jenseits der aktuellen Krisen die Forschung von wachsender Bedeutung ist. Das Fraunhofer-Institut für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme IMS in meinem Duisburger Wahlkreis leistet hervorragende Arbeit.
Was ist gefährlicher für unsere Gesellschaft: die Krisen – oder die Angst vor den Krisen?
Angst ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Sie lähmt uns und führt zu Fehlern. Zuversicht gibt uns die Kraft, Probleme zu lösen und Krisen zu überwinden. Das gilt besonders mit Blick auf die Ukraine. Putins Propaganda versucht gezielt, Ängste zu verbreiten und die Unterstützer der Ukraine zu spalten. Davon dürfen wir uns nicht einschüchtern lassen.
Zum Tag der Einheit haben Sie gesagt: »Unser Land hat die Fähigkeiten, große Transformationen zu gestalten.« Was sind die Fähigkeiten – und wohin wird sich unser Land in zehn Jahren verändert haben?
In zehn Jahren werden wir nachhaltiger und digitaler leben, wohnen, wirtschaften und uns fortbewegen. Ich bin zuversichtlich, dass wir diese Transformation gut bewältigen werden. In meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit standen mir die Umbrüche unserer jüngeren Vergangenheit vor Augen: einerseits der jahrzehntelange Strukturwandel in meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, und andererseits der Umbruch, den die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung gemeistert haben. Beide Fälle zeigen: Unser Land kann viel schaffen – wenn wir zusammenhalten und auch die unterstützen, die von den Umbrüchen besonders hart getroffen werden. Wir haben so viele kluge Köpfe, so viel Kreativität, Flexibilität und Ideenreichtum in Deutschland!
Welches Zukunftsthema würden Sie gerne bei Fraunhofer platzieren?
Die Bundestagspräsidentin sollte sich mit öffentlichen Empfehlungen im Ressort der Bildungsministerin zurückhalten. Aber da Sie gerade meine Rede zum Tag der Deutschen Einheit angesprochen haben: Aus meiner Beschäftigung mit Ostdeutschland weiß ich, dass die Fraunhofer-Gesellschaft bald in der Lausitz einen Standort eröffnen wird. Mit Blick auf den notwendigen Strukturwandel halte ich das für genau den richtigen Ansatz. Soweit ich das überblicken kann, soll dort unter anderem zu Energiethemen geforscht werden. Auch an den anderen Fraunhofer-Instituten wird dazu natürlich viel gearbeitet. Es ist offensichtlich, dass wir genau diese Art von Forschung jetzt dringend brauchen.
Ihr Vorgänger Wolfgang Schäuble hat in seiner letzten Rede als Bundestagspräsident gesagt: »Wissenschaftliche Erkenntnis allein ist noch keine Politik – und schon gar nicht demokratische Mehrheit.« Wird Wissenschaft in Zukunft mehr gefordert sein – und wie kann Ihnen die Forschung helfen, damit demokratische Mehrheiten schneller reagieren können?
Ja, ich glaube, dass Forschung für unserer Gesellschaft wichtiger wird und ihre Bedeutung durch die Pandemie sichtbarer geworden ist. Wolfgang Schäuble hat recht: Wissenschaft kann das Ringen um politische Mehrheiten nicht ersetzen. Es geht immer auch um Abwägungen, um Werte und um Interessen. Aufgabe von Parlament und Regierung ist es, auf Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse politische Entscheidungen zu treffen und zu verantworten. Was das in der Praxis bedeutet, haben wir in der Pandemie sehr gut sehen können. Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Corona-Virus mussten im politischen Prozess abgewogen werden unter anderem mit Freiheitsrechten der Bürgerinnen und Bürger. Hier kommt die politische Verantwortung ins Spiel.
Im Frühjahr haben Sie die Ukraine besucht, zwölf Stunden im Nachtzug, teils mit Helm und Schutzweste – wie ist das für eine Frau der Nachkriegsgeneration, 1968 geboren?
Ich bin im Luxus des Friedens aufgewachsen. Wie sicherlich viele in meiner Generation habe ich Frieden für selbstverständlich gehalten. Krieg in Europa war für mich undenkbar. In Kiew, Butscha und Irpin habe ich dann gespürt, was Zeitenwende tatsächlich bedeutet. Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt.
Sie waren vor Ort in Butscha und Irpin, zwei Orte wahrscheinlicher Kriegsverbrechen durch russische Soldaten. Hat dieses Erleben des Sterbens Ihren Blick verändert?
Ja, dieser Besuch hat mich sehr bewegt. Die Bilder in Butscha und Irpin werde ich nie vergessen. Sie haben mir noch einmal vor Augen geführt, dass wir der Ukraine mit aller Entschlossenheit beistehen müssen.
Sie bezeichnen sich als Pazifistin. Können immer mehr Waffen Frieden bringen?
Der Krieg in der Ukraine hat bei mir eine eigene Zeitenwende im Kopf bewirkt. Wenn man es mit einem brutalen völkerrechtswidrigen Angriff und Menschenrechtsverletzungen zu tun hat, kann man auf Waffen zur Selbstverteidigung nicht verzichten. Putin ist zu keinerlei ernsthaften Verhandlungen bereit. Dieser bitteren Realität muss man sich stellen. Die jüngsten Raketenangriffe auf ukrainische Städte – auf Zivilisten und zivile Ziele! – zeigen, dass wir die Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützen müssen, damit sie sich wehren und schützen können. Deswegen war es so wichtig, jetzt schnell ein modernes Flugabwehrsystem zu liefern.
Sie sind erst die dritte Bundestagspräsidentin unseres Landes, und das gegenüber elf Männern. Brauchen wir mehr Frauenquoten?
Noch immer sind es meist Männer, die über Posten entscheiden. Die Erfahrung zeigt leider: Nach Frauen suchen sie erst dann, wenn eine Quote sie dazu verpflichtet. Darum brauchen wir Quoten. Im Bundestag verharrt der Frauenanteil seit vielen Jahren bei etwa einem Drittel. Das können wir nicht länger hinnehmen. Die bessere Repräsentation von Frauen ist ein Thema der Wahlrechtskommission, die der Bundestag eingesetzt hat. Als Bundestagspräsidentin kann ich der Arbeit der Kommission im Einzelnen nicht vorgreifen. Aber ich mache kein Geheimnis daraus, was ich mir persönlich wünsche. Alle Parteien sollten endlich paritätisch besetzte Listen aufstellen. Ich hoffe sehr, dass es gelingt, verfassungskonforme Wege für diese Vorgabe zu finden. Parität brauchen wir übrigens nicht nur in der Politik, sondern auch in anderen Bereichen. Ich bin mir sicher: Auch die Forschung kann davon profitieren.
Sie haben, wie man so sagt, eine echte Aufstiegsbiographie hingelegt. Wo waren für Sie persönlich die Schwierigkeiten, welche Probleme hat man Ihnen auch in den Weg gelegt – und was braucht unser Bildungssystem, um einen Aufstieg einfacher zu machen?
Nachdem mein älterer Bruder auf dem Gymnasium gescheitert war, war ein Besuch auf dem Gymnasium oder gar Abitur für mich als Mädchen einfach nicht vorstellbar – nicht für meine Lehrerinnen und Lehrer, nicht für meine Eltern. Damit war für mich selbst der Weg in einen guten Ausbildungsberuf vorgezeichnet. Alternativen wurden mir damals nicht aufgezeigt oder ermöglicht. Das geht auch heute noch vielen Jugendlichen so, deren Eltern nicht selbst Abitur gemacht haben. Seit meiner Ausbildung bin ich immer wieder auf Menschen getroffen, die an mich geglaubt, mich bestärkt und mir Chancen geboten haben. Dieses Glück haben andere nicht. Wir brauchen mehr gezielte Förderung, die gesellschaftliche Vorurteile und Hürden überwindet. Egal, ob es um die soziale Herkunft, die Migrationsgeschichte oder das Geschlecht geht. In den techniknahen Berufen gibt es noch immer zu wenige Frauen. Das schadet uns allen. Wir müssen raus aus dem Schubladendenken. Aufstieg sollte kein Ausnahmefall sein, sondern jeder und jedem offenstehen. Unser Bildungssystem kann sicher noch mehr leisten, bestehende Ungerechtigkeiten auszugleichen. Das muss sich ändern. Natürlich spielt auch Geld eine Rolle. Bildung muss kostenfrei und für jede und jeden gut zugänglich sein.
Sie melden sich gerade immer häufiger zu Wort, speziell mit Forderungen nach Schutz für die sozial Schwächeren im Land. Wie hilft Ihnen Ihre eigene Lebensgeschichte, um Sorgen besser zu verstehen?
In meiner Kindheit habe ich erlebt, was es heißt, auf vieles verzichten zu müssen. Diese Erfahrung ist für zu viele Menschen schon seit Langem Alltag. Nun fürchten sie, dass es selbst für das Nötigste nicht mehr reichen könnte. Solche Einschnitte können ein ganzes Leben lang prägen. Nicht alle haben die Kraft und die Mittel, um von selbst wieder auf die Beine zu kommen. Wir müssen alles daransetzen, in Krisenzeiten niemanden allein zu lassen.
Wie verändert sich der Blick aufs Land, wenn man inzwischen zu »ihr da oben« gehört, nicht mehr zu »denen da unten«?
Die eigene Herkunft prägt. Deswegen sehe ich mich selbst gar nicht als »eine da oben«. Trotzdem weiß ich natürlich, dass viele das so wahrnehmen. Und mir ist auch sehr bewusst, dass ich mittlerweile zu den Privilegierten in unserem Land gehöre. Wenn ich »ihr da oben« oder »ihr in Berlin« höre, macht mir das Sorgen. Diese Distanz ist nicht gut für unsere Demokratie. Darum unterstütze ich die Idee der Bürgerräte. Das ist ein neues Format der Beteiligung, bei dem geloste Bürgerinnen und Bürger aus allen Schichten und mit den unterschiedlichsten Hintergründen sich mit einem politischen Problem befassen und dem Bundestag Empfehlungen vorlegen. Ich glaube, dass dieses Format den gefühlten Abstand zwischen Politik und Menschen verringern kann. Mir selbst ist es außerdem wichtig, so viel Zeit wie möglich zu Hause mit den Duisburgerinnen und Duisburgern zu verbringen. Auf dem Fußballplatz, bei Straßenfesten, in Kleingärten, in der Eckkneipe oder bei Betriebsbesuchen. Dort suche ich das Gespräch mit den Menschen auf Augenhöhe ohne Barrieren. Diese Nähe zu den Bürgerinnen und Bürgern ist mir sehr wichtig.
Sie haben mit der Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg beim KBC Duisburg gespielt. Wie war sie als Spielerin?
Ich durfte zweimal mit ihr spielen. Das war mir eine große Ehre – zumal ich damals ehrlich gesagt nicht in Topform war. Ich hab an Martina Voss-Tecklenburg nur gute Erinnerungen. Ich denke gern an die Spiele zurück und freue mich jetzt von Herzen über ihre Erfolge und unsere Begegnungen.
Sie sind als Linksaußen aufgelaufen. Was haben Sie beim Fußball für die Politik gelernt?
Ausdauer, Zielstrebigkeit und vor allem Teamgeist und Freude an der Sache. Gemeinsam gewinnen, gemeinsam verlieren. In der Politik muss man sich natürlich auch mal gegen andere durchsetzen, aber ohne Zusammenhalt geht es nicht auf dem Platz und nicht im Plenarsaal.
Sie fahren privat eine Harley Davidson Low Rider S. Was gibt Ihnen das Motorrad – und wann wird ein Elektromotor für Sie interessant?
Ehrlich gesagt, ich möchte auf meiner Harley die PS auch spüren. Andererseits: Bei E-Autos wird mittlerweile ein klassischer Motor simuliert. Sie haben mich doch vorhin nach meinen Wünschen an die Fraunhofer-Gesellschaft gefragt: Wenn Sie da was entwickeln könnten, würde ich mich vielleicht auch vom E-Motorrad überzeugen lassen.
Was soll man am Ende der Amtszeit über die Bundestagspräsidentin Bas sagen?
Fragen Sie mich in drei Jahren noch mal.
Was sollen Ihre Freunde über die Bärbel sagen?
Sie ist immer noch die Bärbel, die wir kennen.