Dr. Wolperdinger, wie ordnen Sie den Forschungsbereich »Bioökonomie« ein?
Die Bioökonomie hat inzwischen eine globale Dimension angenommen: Seit einigen Jahren gibt es erhebliche Anstrengungen von vielen Ländern, Bioökonomie-Strategien zu erstellen und diese in die Umsetzung zu bringen. Was die Definitionen von Bioökonomie angeht, so gibt es verschiedene, je nach Ausgangspunkt – nachzulesen sind sie etwa auf den Internetseiten der EU. Generell ist die Bioökonomie abgeleitet aus dem Bestreben der Menschheit, aus der Biologie und der Natur zu lernen und dieses Wissen für die Herstellung von Produkten oder zur Verbesserung von Prozessen zu nutzen. Heute stehen die Fragen im Vordergrund: Wie lässt sich eine Kreislaufwirtschaft installieren, an deren Ende keine Abfälle stehen? Wie können fossile Rohstoffe ersetzt werden? Wie können mit nachhaltigen Verfahren innovative Produkte und gesündere Lebensmittel erzeugt werden? Die Bioökonomie ist also eine Art Motor für die Umsetzung der globalen Nachhaltigkeitsziele.
Wie treibt die Fraunhofer-Gesellschaft – und das Fraunhofer IGB als Teil davon – die Bioökonomie voran?
Die Bedeutung der Bioökonomie hat in der Fraunhofer-Gesellschaft stetig zugenommen, auch die Sichtbarkeit und Wahrnehmung der Fraunhofer-Gesellschaft im Außenraum ist hier deutlich gestiegen. Das Fraunhofer IGB ist im Bereich der Bioökonomie sehr breit aufgestellt – wir beschäftigen uns immerhin seit 40 Jahren damit. Dementsprechend sind wir auf vielen verschiedenen bioökonomischen Feldern aktiv. Momentan arbeiten wir im Bereich der Gesundheit, der nachhaltigen Chemie und der Umwelt, wobei das alles natürlich zusammenhängt.
Welche Projekte verfolgen Sie konkret?
Ein großes Thema ist die Wasserknappheit in zahlreichen Ländern. Wir arbeiten daher beispielsweise mit der Universität Stellenbosch in Südafrika daran, dafür Lösungen zu entwickeln – dabei berücksichtigen wir neben „Wasserthemen“ auch energetische und gesellschaftliche Gesichtspunkte. Dazu haben wir eine Innovationsplattform auf den Weg gebracht, in der wir genau diese Fragestellungen mit vielen Partnern vor Ort bearbeiten und diese Thematik auch in anderen Gebieten auf der Welt voranbringen.
Auf nationaler Ebene beschäftigen wir uns mit bioökonomischen Lösungen im Rahmen des Kohleausstiegs und des Strukturwandels. An unserem Institutsteil in Leuna haben wir daher das Konzept eines „BioEconomyHUB“ entwickelt, das wir mit vielen Partnern und Unternehmen am Chemiestandort Leuna im bioökonomischen Sinn voranbringen und die entwickelten Verfahren in die industrielle Umsetzung bringen. Wir wollen die Zukunftsfähigkeit der betroffenen Regionen also sichern, indem wir ihre Innovationskraft stärken.
Ein weiteres Beispiel aus unserem Hause sind Farbstoffe, die aus atmosphärischem CO2 gewonnen werden. Statt die Farbstoffe über verschiedene nicht-nachhaltige Prozesse aus Rohöl zu gewinnen – wie es üblicherweise der Fall ist – verändern wir im Projekt Celbicon die Kohlenstoffquelle: Wir entnehmen den benötigten Kohlenstoff in Form von CO2 aus der Luft und wandeln CO2 durch eine Kombination von elektrochemischen und biotechnologischen Verfahren in einen komplexen, wertschöpfenden Farbstoff um. Darüber hinaus entwickeln wir mit Partnern biologisch abbaubare Kunststoffalternativen – beispielsweise als Verpackungsmaterialien für den Kosmetikbereich. Die Kunststoffe werden sozusagen mit der Kraft der Bakterien hergestellt. Bei den Verfahrensprozessänderungen, die dafür notwendig sind, sind wir schon sehr weit gekommen.
Wie anwendungsnah ist die Bioökonomie – wie schnell also könnten entsprechende Produkte ihren Weg in den Markt finden?
Die Verfahren der Bioökonomie stehen bisher oftmals noch in Konkurrenz zu etablierten Verfahren, was eine große Herausforderung darstellt. Während etablierte Verfahren kostenoptimiert sind, werden neue Produkte sehr genau geprüft und müssen große, oft auch regulatorische Hürden überwinden, bevor sie auf den Markt dürfen.
Ein Beispiel für das Potenzial der Bioökonomie sind funktionale Inhaltstoffe aus Mikroalgen, die kupferbasierte Spritzmittel im Weinbau ersetzen können. Die Industrie bekundet großes Interesse, erste Gespräche zur Nutzung laufen bereits.
Am Fraunhofer CBP in Leuna haben wir bereits Produkte im Industriemaßstab hergestellt, die von unseren Partnern in den Markt eingefügt wurden, etwa Oligosaccharide als Bestandteil von Nahrungsergänzungsmitteln oder Biokatalysatoren für nachhaltige Synthesen.