»Ohne Vorbehalte aufgenommen!«
Interview mit Prof. Reimund Neugebauer
Gründer und langjähriger Leiter des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz. Seit 2012 ist er Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft.
Wie haben Sie 1990 Kontakt zur Fraunhofer-Gesellschaft gefunden?
Ich war gerade von der Industrie an die TU Dresden zurückgekommen und mit großem Elan dabei, ein Institut für Werkzeugmaschinen aufzubauen. Es war Freitag und ich hatte um 13 Uhr eine Dienstbesprechung anberaumt. Da kam unangemeldeter Besuch von der Fraunhofer-Gesellschaft. Es waren Hans Jung aus der Zentrale und Clemens Schmitz-Justen, Oberingenieur am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie in Aachen. Sie waren im Auftrag des Vorstands unterwegs, um Gründungspersönlichkeiten für ein produktionstechnisches Institut in Sachsen zu suchen. Ich war mitten in der Dienstbesprechung, die ich nicht unterbrechen konnte. Die Herren mussten deshalb eineinhalb Stunden warten. Das scheint sie irgendwie beeindruckt zu haben.
Wie empfanden Sie die Chance, ein Fraunhofer-Institut aufzubauen?
Als Gewächs der TU Dresden fiel es mir zunächst schwer, nach Chemnitz zu gehen. Man gab mir aber die Möglichkeit, einige Fraunhofer-Institute in Berlin, Stuttgart und Aachen anzuschauen. Ich sah die Chancen und wollte sie dann auch wahrnehmen. Also habe ich von Dresden aus den Aufbau organisiert. Im Januar 1992 bin ich dann ganz nach Chemnitz gegangen.
Warum wurde damals Chemnitz als Standort ausgewählt?
Sicher hatte die TU Dresden den bekannteren Namen, aber Chemnitz hatte gerade in den technischen Wissenschaften Maschinenbau, Elektrotechnik, und der Informationstechnik eine lange Tradition. Es hatte im Gegensatz zu Dresden einen viel stärkeren Mittelstand, einen viel stärkeren Maschinenbau. 1990/91 gab es noch sechs Maschinenbaufabriken, etwa 15 Sondermaschinenbauer und eine große Anzahl von Autozulieferern. Dass das Institut in Chemnitz so schnell zustande kam und so schnell auch wachsen konnte, hat viel damit zu tun, dass es am richtigen Standort war.
Wie kam das Engagement der Fraunhofer-Gesellschaft an?
1990/91 waren die Menschen noch voller Enthusiasmus. Die Enttäuschungen kamen erst, als die ersten Firmen, die viel Geld von der Treuhand bekommen hatten, Pleite gingen. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist mit größter Hochachtung, viel Wohlwollen und Vertrauen aufgenommen worden. Die Gründe lagen darin, dass man keinerlei Vorbehalte hatte, und zweitens, dass man die hohe Qualität der technischen Ausbildung der Leute vor Ort wertgeschätzt hat. Und der dritte Punkt: Fraunhofer war die erste Organisation, die sich dort engagierte. Es ist im ostdeutschen Wissenschaftssystem sehr wohl wahrgenommen worden, dass sich andere Organisationen wie die Max-Planck-Gesellschaft lange zurückhielten.
Wo lagen die größten Probleme in den ersten Jahren?
Anfangs gab es Probleme in der Ausstattung, aber da hat die Fraunhofer-Gesellschaft schnell geholfen, Geräte und Anlagen beschafft sowie Gebäude hergerichtet. Das Hauptproblem lag darin, Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler mit unternehmerischem Denken zu finden. Die Kollegen aus den Akademieinstituten und Universitäten waren nicht darauf getrimmt, die der technischen Fakultäten eher. Es gab auch Industrieforschungsinstitute. Aus dem Institut für Werkzeugmaschinen in Chemnitz und dem Institut fürUmformtechnik in Zwickau habe ich Mitarbeitende mit Industriekontakten rekrutiert.
Die Wirtschaft zerfiel zusehends, wie kamen Sie trotzdem zu Aufträgen?
Durch die Förderprogramme des Bundes und der EU hatten viele Unternehmen anfangs noch genügend Mittel für Forschungsprojekte. Kleine Firmen überstanden aber oft nicht die Lebensdauer der geförderten Projekte. Doch bald hat sich die Spreu vom Weizen getrennt. Dann gab es auch in Chemnitz Firmen, die am Markt eine singuläre Stellung durch die Kooperation mit Fraunhofer hatten. Schließlich siedelten sich auch Unternehmen an. Jedenfalls hatten wir am IWU von Beginn an einen relativ hohen Industrieanteil, in der Regel bis zu 50 Prozent aus den neuen Bundesländern.
Wie wurden Sie von den Institutsleiterkollegen im Westen aufgenommen?
Durchwegs wohlwollend, aufgeschlossen, sehr freundlich, auch kameradschaftlich, mit zunehmendem Erfolg mit Zurückhaltung. Es waren schließlich dieselben Töpfe, an die wir gegangen sind. Ich bin bis heute dankbar und trage das auch weiter als Präsident, wenn neue Institutsleiter zu Fraunhofer kommen. Mir ist nicht an einem Tag in irgendeiner Weise ein Vorbehalt entgegengebracht worden, weil ich aus Sachsen komme.
Was waren nach Ihrer Meinung die Gründe für die schnelle und gelungene Integration?
Das hat sehr viel zu tun mit dem Engagement des Vorstands, den Präsidenten Max Syrbe und Hans-Jürgen Warnecke und den Vorständen Ulrich Wiese und Dirk-Meints Polter. Aber auch viele Verantwortliche in der Zentrale, die Herren Imbusch, Jung, Bube, Schnabel, Friedrich, engagierten sich außergewöhnlich. Auch innerhalb von Fraunhofer herrschte eine ganz positive Aufbaustimmung. Es gab eine echte Kameradschaft zwischen den Institutsleitern. Man hat sich gegenseitig mitgenommen, alle neuen Institute hatten Partner im Westen. Ich hatte als Partnerinstitut das IPT in Aachen. Und noch etwas war entscheidend für den schnellen Erfolg: Die »alte« Fraunhofer-Gesellschaft hatte in der Wirtschaft einen exzellenten Ruf. Das Label Fraunhofer hat uns beim Akquirieren im Westen sehr geholfen.
Wo liegen die Schwerpunkte für Fraunhofer in den östlichen Bundesländern?
Sachsen ist der größte Standort. Sachsen hat auch die stärkste Wirtschaftskraft. Der Wirtschaftsertrag der sächsischen Institute liegt seit Jahren weit über dem Fraunhofer-Durchschnitt, einige liegen seit Jahren in der Spitzengruppe. Wir haben aber auch in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Berlin Institute mit großem wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg und bauen unsere Aktivitäten in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern kontinuierlich aus.
Hohe Selbstständigkeit der Institute bei intensiver Vernetzung — ist das heute noch das Erfolgsrezept?
Heute geht es weniger darum, Ost und West oder Süd und Nord zu vernetzen. Heute brauchen wir Vernetzung, um große, wichtige Projekte auf Bundes- und EU-Ebene durchsetzen und akquirieren zu können, die ein einzelnes Institut allein gar nicht leisten kann. Heute kann ein Institutsleiter sein Institut nicht mehr mit 300 Aufträgen à 20 000 Euro finanzieren. Er braucht große Projekte im Hunderttausender oder Millionenbereich, damit er echte, disruptive Innovationen schaffen kann und nicht nur kontinuierliche Verbesserung im Unternehmen.
Inzwischen ist ein Generationswechsel im Gange?
Wir hatten ja schon vor zehn Jahren den Wechsel einiger Institutsleiter, zum Beispiel in Jena, wo Andreas Tünnermann auf Wolfgang Karthe folgte, oder im IKTS, wo Herr Hermel die Leitung an Herrn Michaelis übergab. Beide haben die Institute weiter nach vorne gebracht. Auch bei anderen Instituten wurden hervorragende Nachfolger gefunden. Bei mir ist der Wechsel nun auch bald fünf Jahre her. Überall, wo der Wechsel stattgefunden hat, fand Wachstum in den wirtschaftlichen Erträgen und in der inhaltlichen Tiefe statt. Deshalb bin ich guter Hoffnung, dass wir auch die anstehenden Führungswechsel gut über die Runden bringen.
Welche Zukunftsthemen sorgen für neue Perspektiven?
Ein großes Thema ist die Energiespeicherung für mobile und stationäre Speicher. Daran arbeiten mehrere Institute im Dresdner Raum. Ein anderes großes Thema – auch in Dresden – ist die Mikroelektronik mit der Funktionsintegration von Sensoren und Aktoren in die Chips. Ein drittes großes Thema liegt in der Medizintechnik, insbesondere bionische Themen. Außerdem haben wir in der Region Dresden/Chemnitz viel vor. In der Digitalisierung von Produktionssystemen und in Dresden wollen wir ein Institut für cyberphysische Produktionssysteme gründen. In Jena wird das Thema Optik und optische Systeme vorangebracht. Und in Magdeburg steigt man intensiv in das Thema kognitive Robotik ein.
Geht das Wachstum weiter?
Wachstum war noch nie eine Zielgröße bei Fraunhofer. Wir haben große Wachstumsschübe hinter uns, durch die Gründung der Ostinstitute, die Integration der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung GMD und der Forschungsgesellschaft für Angewandte Naturwissenschaften FGAN, wo wir ganze Gruppen von Instituten übernommen haben. So etwas stand in letzter Zeit nicht an, aber Fraunhofer ist athletischer geworden. Wir sind kerngesund, finanziell und wissenschaftlich. Wir haben große Anstrengungen unternommen, damit wir nicht nur Wissenschaft verkaufen, sondern auch selbst Originäres, Unverwechselbares erschaffen. Unser wesentliches Ziel ist jetzt, systemrelevante Innovationen durch Projektzentren voranzutreiben und disruptive Innovationen, also echte Durchbrüche, zu erzielen. Deshalb bauen wir Forschungscluster auf, in denen mehrere Institute ihre Kompetenzen zu einem bestimmten Thema so bündeln, dass sie zu nationalen Zentren für diese Forschungsrichtung werden – etwa für maschinelles Lernen, für programmierbare Materie, für die öffentliche Sicherheit oder für Autoimmunerkrankungen. Solche Themen wollen wir intensiv vorantreiben, damit wir die wissenschaftliche Federführung behalten und den Unternehmen helfen können, nicht nur ihre Prozesse zu verbessern, sondern mit völlig neuen neuen Produkten auch neue Märkte zu eröffnen.
Das Interview führte Franz Miller.