Gab es solche Formen der Unterstützung auch bei Fraunhofer?
Ich kam im Rahmen meines Mathematikstudiums zu Fraunhofer. So konnte ich mein Studium und meinen Lebensunterhalt finanzieren, und zum anderen hatte ich die Chance, mein theoretisches Wissen aus Mathematik und Informatik praktisch anzuwenden – sozusagen die Theorie auch mal in freier Wildbahn zu erleben.
Ich hatte am IAIS großartige Betreuer:innen. Sie gaben mir Ziele vor und ließen mir bereits als wissenschaftliche Hilfskraft großen Freiraum, eigenständig zu forschen. Ich lernte, komplexe Inhalte wissenschaftlich sauber und nachvollziehbar zu dokumentieren, mich selbst in einem komplexen Umfeld zu organisieren und vor allem die richtigen Fragen zu stellen. Manchmal befand ich mich tagelang auf dem Holzweg, bis mich einer meiner Betreuer:innen im nächsten Meeting wieder auf Kurs brachte.
Gerne erinnere ich mich auch daran, dass ich den Rechencluster vom Fraunhofer IAIS benutzen durfte, um meine rechenintensiven und hochparallelisierten Algorithmen laufen zu lassen. Die Cluster brachte ich gelegentlich mit fehlerhaftem Code zum Absturz, oder ich ließ die die Festplatten über das Wochenende versehentlich mit Daten volllaufen. Glücklicherweise konnte ich das mit ein bisschen Hilfe stets schnell korrigieren. Den Freiraum für solche Experimente zu haben, war für mich sehr wichtig.
Spielt die Fraunhofer-Gesellschaft für Sie auch heute noch eine Rolle?
Auf jeden Fall! Ich greife bis heute auf viele Erfahrungen zurück, die ich am Institut in Birlinghoven gemacht habe. Mit manch ehemaligen Kolleginnen und Kollegen halte ich bis heute Kontakt. Zu diesem wertvollen Netzwerk kommt die Reputation der Fraunhofer-Gesellschaft. Ihre Meinung ist in meinem Arbeitsumfeld gern gesehen.
Die oben genannten Motive, Pionierarbeit zu leisten, kontinuierlich zu lernen und sich selbst unliebsamen Herausforderungen zu stellen, fließen auch unmittelbar in meine aktuelle Unternehmensgründung ein. Von einem großartigen Coach lernte ich folgendes Bild: Der Entdeckergeist der Pioniere wird diese nie lange am selben Ort halten. Sie streben stets in unberührte Regionen. Dieser Spur folgen die Siedler, die das erkundete Gebiet für sich erschließen. Wächst die Siedlung zu einer Stadt heran, benötigt sie eine komplexe und skalierbare Infrastruktur. Das ruft die Architekten auf den Plan.
Als ich 2020 die Strategie für ein neues Unternehmen konzeptionierte, entsprach das Pionierarbeit. Das Konzept in ein lebendiges Unternehmen zu überführen war Siedlerarbeit. Das Unternehmen hochzuskalieren ist Architektenarbeit. Auch hier sieht man sehr schön den Pfad von der Idee über den Prototypen hin zum etablierten Produkt. Wie Sie sehen, hat mich meine Laufbahn von der Universität über das Fraunhofer-Institut hin zur Wirtschaft bestens auf die Unternehmensgründung vorbereitet. Dass ich das Glück hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, spielte natürlich auch eine Rolle.
Im Grunde lassen sich Menschen und ihre Fähigkeiten grob in diese Kategorien »Pionier, Siedler und Stadtplaner« einordnen. An der Universität finden wir überwiegend Pioniere und Pionierinnen, die Grundlagenforschung betreiben. Bei der der Fraunhofer-Gesellschaft treffen wir darüber hinaus auf Siedlerinnen und Siedler, die auf diesen Grundlagen funktionierende und innovative Prototypen kreieren. In der freien Wirtschaft leiten Architektinnen und Architekten aus den Prototypen Produkte ab, skalieren und vertreiben diese. Die Fraunhofer-Gesellschaft ist nicht umsonst als das Bindeglied zwischen Wissenschaft und Wirtschaft bekannt.
Können Sie uns mehr aus Ihrem Alltag erzählen? Was macht das Gründen so anspruchsvoll?
In einem etablierten Unternehmen hat man viele Strukturen und Ressourcen, auf die man im Alltag zurückgreifen kann. Während man hier viel Energie aufwenden muss, Strukturen zu verändern, ist es in einem jungen Start-up genau andersherum: Man muss Energie aufwenden, um Strukturen aufzubauen. Wir sind so explorativ unterwegs, dass wir sagen, ein Prozess ist entstanden, sobald wir eine Sache zweimal auf dieselbe Art und Weise gemacht haben. Richtig oder falsch sind nicht immer sofort klar. Unser Alltag ist geprägt von »Educated Guessing«.
Hier kommt der oben erwähnte Pionier voll zum Einsatz: Als Gründer steht man gewappnet mit einer Machete und einem Kompass mitten in einem Dschungel. Es gibt keine Landkarte. Klettert man auf einen Baum, sieht man das Ziel klar und deutlich, aber weit weg auf einem hohen Berg. Zurück auf dem Boden bahnt man sich seinen Weg durch den Dschungel in Richtung Ziel. Manchmal setzt man die Machete ein, um sich durchs Dickicht zu kämpfen. Manchmal entscheidet man sich für einen Umweg, wenn man zum Beispiel ein Raubtier brüllen hört oder auf eine unüberwindbare Schlucht stößt. Man nimmt die Hürden so, wie man auf sie stößt, und korrigiert den Kurs mithilfe des Kompasses immer wieder. Am Ziel angekommen, hat man ausreichend Informationen gesammelt, um eine Karte zeichnen zu können – zumindest für den Teil, den man exploriert hat.
Ihr aktuelles Projekt ist eine Ausgründung aus einem größeren Unternehmen heraus. Was sind die größten Unterschiede zur unabhängigen Gründung eines Start-ups?
Die Unterschiede liegen unter anderem entlang der Dimensionen Sicherheit und Flexibilität. Ausgründungen aus einem größeren Unternehmen heraus sind oft finanziell besser abgesichert und müssen sich nicht um kräftezehrende Investitionsrunden kümmern. Dafür werden sie durch die eine oder andere Corporate Policy eingeschränkt und müssen sich teilweise nach der Strategie des Mutterkonzerns ausrichten. Bei freien Start-ups ist das oft andersherum: mehr Unabhängigkeit bei der Gestaltung, aber weniger Sicherheit bei der Finanzierung.