»Alles ist fraktal« - Ein Interview mit Dr. Ruth Houbertz

Mehr als 120 Patente, eine Sammlung persönlicher Auszeichnungen und zahlreiche Preise für eine Ausgründung für 3D-Laserlithographie: Dr. Ruth Houbertz ist gerne hochtourig unterwegs, als Wissenschaftlerin, Gründerin, Weltverbesserin oder auf dem Motorrad. Als erfolgreiche Tech-Gründerin und Mutter ist sie ein Vorbild und eine Persönlichkeit mit ehernen Grundsätzen. Nach einer Stelle bei den Sandia National Laboratories in den USA wechselt sie an das Fraunhofer ISC in Würzburg. Die Physikerin wirkt dort 14 Jahre lang. In dieser Zeit stößt sie einige Umstrukturierungen an, um das Profil ihres Teams zu schärfen und letztlich die Bereiche Optik und Elektronik zusammenzuführen. Mit Erfolg: Sie entwickelt einen Prozess zur direkten Ankopplung eines oberflächenemittierenden Lasers, eines sogenannten VCSELs, an eine Photodiode mittels eines optischen Wellenleiters und erhält dafür 2007 den Joseph-von-Fraunhofer-Preis. Über »Zwei-Photonen-Absorption« (TPA) verleiht das Team um Houbertz einem am ISC entwickelten Material dreidimensionale Strukturen. Dieses Verfahren entwickelt Houbertz weiter und überführt das 2013 in das Spin-off Multiphoton Optics GmbH. Die Gründerin hat große Pläne mit dem Startup und erhält dafür zahlreiche Auszeichnungen und Preise. Anfang 2021 folgt der Verkauf. Heute berät Ruth Houbertz mit ThinkMade Engineering & Consulting Unternehmen in Innovations- und Technologiefragen, ist als Innovationsmanagerin für SprinD tätig und in mehreren Gremien und Wirtschaftsverbänden aktiv. Mit dem Projekt »Society6.0« setzt die gebürtige Rheinländerin für alle Bevölkerungsschichten neue Akzente bei Bildung und Information und engagiert sich damit für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt und nachhaltig und verantwortlich handelt.

Ruth Houbertz
© Fraunhofer ISC
Ruth Houbertz kann auf eine stattliche Sammlung von Auszeichnungen als Wissenschaftlerin und als Unternehmerin blicken.
»Nicht jammern, sondern tun!«
© Houbertz
»Nicht jammern, sondern tun!« - So fasst die Wahlwürzburgerin die Idee hinter ihrem neuen Projekt »Society6.0 Bewegung für Menschen und Umwelt« zusammen. Das Netzwerk für eine nachhaltige und verantwortungsvolle Gesellschaft adressiert alle Themen aus Wirtschaft, Technologie und Sozialem und steht jedem Menschen offen.
Das von Ruth Houbertz maßgeblich entwickelte Verfahren ermöglicht sehr kleine und hochpräzise Bauteile, wie etwa in diesem Beispiel optische Bauteile.
© Multiphonton Optics
Das von Ruth Houbertz maßgeblich entwickelte Verfahren ermöglicht sehr kleine und hochpräzise Objekte mit komplexen Strukturen, wie etwa in diesem Beispiel optische Bauteile.

Frau Houbertz, Sie haben einen sicheren Job bei Fraunhofer aufgegeben, um sich in das Abenteuer einer Gründung zu stürzen.

Die Ausgründung wagte ich, weil ich auch heute noch davon überzeugt bin, dass optische Datenübertragung zumindest einen Teil der Energieprobleme in Rechenzentren lösen kann. Im Vergleich zur elektronischen Übertragung lässt sich mit optischen Komponenten ein Bit mit einem Bruchteil des Energiebedarfs übermitteln. Optische Verfahren können aber auch in vielen anderen Bereichen eingesetzt werden. Beispielsweise sind in Smartphones sehr kleine Optiken verbaut. Mit 3D-Lithographie könnte man diese weiter minimieren und zum Beispiel ultraflache Optiken mit zusätzlichen Funktionen, etwa eine Metaoptik, herstellen. Das ist aber nur eines von vielen Beispielen – anspruchsvoll mit viel »Hebel«, um die Art, wie wir heute Optiken bauen, zu revolutionieren.

Die Umsetzung in Konsumenten-Produkten ist noch nicht abgeschlossen?

Man kann das nicht isoliert betrachten, es sind immer Systeme, die funktionieren müssen. Optische Bauteile alleine machen keinen Sinn. Es wird immer Schnittstellen geben, an denen Lichtsignale in elektrische Informationen umgewandelt werden müssen. Hinzu kommt: Wir beschäftigen uns erst seit etwa zwei Dekaden mit der Integration optischer Datenübertragung in die mikroelektronisch geprägte Welt. Dem stehen mehr als 70 Jahre Entwicklung im mikroelektronischen Bereich gegenüber. Die Marktprognose sagte etwa 2018 als das Jahr voraus, in dem die optischen Technologien »fliegen«. Das sehen wir jetzt mit zwei bis drei Jahren Verspätung.

Können Sie das von Ihnen mitentwickelte Verfahren kurz erläutern?

Gibt man einen Pfannenkuchen in eine Pfanne mit heißen und kalten Bereichen, entsteht ein Muster. An den heißen Stellen härtet der Teig aus, den Rest schüttet man weg. Das ist analog zur klassischen Lithographie zu sehen, bei der man durch einen Belichtungsvorgang mit Licht einer bestimmten Wellenlänge (oder Farbe) und einer Maske die gewünschten Strukturen enthält. So werden beispielsweise mikroelektronische Bauteile, wie Chips, hergestellt. Man kann eine Flüssigkeit verwenden, die durch Belichtung fest wird und entfernt das nicht-belichtete Material mit einem Lösungsmittel. Das bezeichnet man als »additiv«. Andersherum kann man auch feste Bindungen durch Beleuchtung brechen und damit etwas wegnehmen, was man als »subtraktiv« bezeichnet.

Das Besondere an dem von mir weiterentwickelten Verfahren ist nun, dass man noch nicht einmal eine Maske benötigt und das Licht wie einen Schreibstift durch ein Material, das ich bei der Fraunhofer-Gesellschaft im Rahmen meiner Tätigkeiten dort für diese Technologie weiterentwickelt habe, orchestrieren kann. Orchestrieren bedeutet hier vollkommen freie Beweglichkeit des Lichts. Wir haben uns damit deutlich von unseren Wettbewerbern abgehoben. Man kann aber auch, wie mit einem 3D-Drucker, Lage für Lage eine dreidimensionale, hochpräzise 3D-Struktur aufbauen, was die am weitesten verbreitete Variante der Strukturierung ist. Das Besondere der Multiphoton Optics ist die Möglichkeit, additive und subtraktive Verfahren zu orchestrieren. So können komplexere Strukturen aufgebaut oder abgetragen werden, und das in einer einzigen Maschine. Ich verbrachte einen guten Teil meines Lebens, etwa 20 Jahre, damit Licht-Materie-Wechselwirkungen zu studieren und mich sehr intensiv mit Software und Steuerungen auseinanderzusetzen.

Sie haben nicht nur selbst Auszeichnungen erhalten, sondern auch mit dem von Ihnen gegründeten Unternehmen mehrere renommierte Preise gesammelt. Dennoch stimmten Sie im Frühjahr einem Verkauf zu.

Preise sind nicht alles. Eigentlich wollte ich ein Unicorn [Anm. d. Red.: Start-up mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar] aus diesem Unternehmen machen. Inzwischen bin ich der Ansicht, dass – mit Ausnahme von Fraunhofer – die Investoren nicht verstanden haben, dass man nicht dem schnellen Geld hinterherlaufen darf, wenn man etwas wirklich Großes schaffen will. Angst war noch nie eine gute Ratgeberin.

Meine Gründung ist jetzt mit Heidelberg Instruments Mikrotechnologie in sehr guten und kompetenten Händen, dennoch hätte ich gerne gesehen, wie sich das Unternehmen in sinnvollen Applikationen rasant weiterentwickelt. Mein Traum, den ich trotz Unternehmensverkaufs noch nicht aufgegeben habe, ist eine neue Dimension des Optischen Packagings für Co-Packaged On-Board-Optiken und Waferscale-Optiken mit einem Grad an Freiheitsgraden zu erreichen, wie er für die bis dato umgesetzten Verfahren noch nicht möglich ist. Das eröffnet vollkommen neue Perspektiven, wie etwa superflache und extrem leichte und hochintegrierbare Optiken. Aber auch hier ist es wie überall: Es gibt nicht nur schwarz und weiß, oder technologisch gesprochen gute oder schlechte Technologie. Die Würze kommt durch die Kombination von Technologien und hybriden Ansätzen wirklich zum Tragen.

Was gab letztlich den Ausschlag für den Verkauf?

So viel steht heute schon fest, sollte ich eines Tages Memoiren verfassen, steht auf der ersten und auch nochmal auf der letzten Seite: Bleib Dir selbst treu, sei passioniert und authentisch! Wenn ich nicht liebe, was ich tue, es keinen Spaß macht, oder es mich nicht mehr weiterbringt, dann gehe ich. Das habe ich übrigens schon immer so gemacht. Als mich in der Schule der Unterricht zu langweilen begann, bin ich aus dem Fenster geklettert und zum Aachener Markt gegangen, um Menschen zu beobachten und mich mit anderen zu treffen. Deutlich sinnvoller verbrachte Zeit für mich. Ob ich ein Unternehmen gründe oder mit Kindern backe – ich mache immer nur das, von dem ich überzeugt bin und was mir Spaß macht. Man sollte sich nie korrumpieren.

Das klingt nicht nach Kompromissbereitschaft?

Grundsätzlich bin ich immer kompromissbereit und lege Wert auf eine harmonische Umgebung. Man muss sicher hin und wieder mit den Wölfen heulen, wichtig ist aber sich dabei zu fragen: Was will ich am Ende für alle erreichen? Ich bin ein Fan von Win-Win, und das wird sich in diesem Leben nicht mehr ändern. Die Gefahr, sich selbst zu kompromittieren besteht natürlich immer, aber man kann das sehr gut durch eine tiefe Reflexion vermeiden. Steve Jobs war für mich ein bewundernswertes Beispiel für einen Menschen, der sich nicht verbiegen ließ. Wenn ich mich nicht am richtigen Platz fühle, ändere ich die Funktion oder gehe ganz. Es bringt mir nichts, wenn ich unglücklich werde, indem ich so manchem Menschen ausgesetzt bin, der keinerlei Rückgrat oder wissenschaftliche Ehre im Leib hat. Manchmal dauert es bei mir etwas länger, weil bei allem, was ich tue viel Gefühl und Emotion dabei ist. Schließlich wage ich diesen Schritt, denn alle Änderungen im Leben bringen einen auf ein neues Level. Und meist ist das noch viel besser als vorher. Es liegt in unserer Hand einen offenen Mindset zu haben und auch Negatives in Positives zu verwandeln.

In einigen Phasen meines Berufslebens hatte ich den Eindruck, meine Identität zu verlieren. Ich sage das immer wieder in Mentorings oder auch bei Podiumsdiskussionen: Wenn Ihr das merkt, geht weg! Ändert etwas! Auch wenn das manchmal hart ist. Ich wusste ja auch nicht, ob meine Selbständigkeit oder die Society6.0 funktionieren. Tatsächlich bekam ich nach dem Verkauf ein sehr lukratives Job-Angebot aus den USA. Weil ich aber mein eigenes Leben möchte und nicht das, was andere Menschen von mir erwarten, entschied ich mich bewusst dagegen. Kreativität entsteht für mich nur dann, wenn ich frei denken kann. Insofern habe ich mich wieder für die Unsicherheit entschieden, auch wenn es verlockend war, einmal in einem richtig hippen Großkonzern zu arbeiten.

 

Joseph-von-Fraunhofer-Preis 2007: Dr. Ruth Houbertz-Krauß vom Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC, Würzburg.
© Fraunhofer ISC
Ein Team des Fraunhofer ISC und der AT&S AG, angeführt von der Würzburger Physikerin Dr. Ruth Houbertz erhält am 11. Oktober 2007 in Bonn den Joseph-von-Fraunhofer-Preis für die Integration optischer Wellenleiter in Leiterplatten. Dafür kombinierte sie ein spezielles Material, um einen Wellenleiter direkt an ein vormontiertes Bauelement zu schreiben.
© Fraunhofer Venture
Gründerinnen oder Gründungsinteressierten im Technologie-Bereich rät die engagierte Physikerin: »Just do it – trau Dich, andere kochen auch nur mit Wasser, und das ist für alle gleich.«
Gründerpreis von Fraunhofer Venture
© Fraunhofer Venture
Das Team der Multiphoton Optics GmbH erhält den Fraunhofer Gründerpreis 2016 v. l.: Daniel Kühn (Multiphoton Optics GmbH), Dr. Valentin Ratz (Multiphoton Optics GmbH), Dr. Alexander von Frankenberg (High-Tech Gründerfonds), Dr. Ruth Houbertz (Multiphoton Optics GmbH), Prof. Alexander Kurz (Vorstand Fraunhofer-Gesellschaft), Benedikt Stender (Multiphoton Optics GmbH), Dr. Alexander Krupp (Multiphoton Optics GmbH) und Felix Kiesel (Multiphoton Optics GmbH)

Ruth Houbertz mit Motorrad
© World Food Programme
»Um den Kopf frei zu bekommen« dreht Ruth Houbertz gerne eine Runde mit ihrem Motorrad.

Wie sind Sie zu Fraunhofer gekommen?

Ich bin aus den USA von den Sandia National Laboratories als Wissenschaftliche Mitarbeiterin ans Fraunhofer ISC gewechselt. Schon bald hatte ich mein erstes Team zunächst unter der Bezeichnung Mikrosystemtechnik, später Hybridpolymere für Mikrosystemtechnik. Wir standen vor der Aufgabe, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich mit interessanten Materialien und einer Unmenge an Applikationen in den Bereichen Mikroelektronik, Optik, Batterieentwicklung, Medizin, Latentwärme-Speicher auseinandersetzten. Auch wenn das alles superspannend war, ist es schwierig einen Bauchladen in eine ernst zu nehmende Unternehmung zu überführen. Analog zur Gründung eines Startups, begann ich diese tollen Aktivitäten zu clustern, anzuarbeiten und dann in andere beziehungsweise neue Bereiche am Institut auszugliedern. So konnte ich immer mehr auf die Kombination Optik und Elektronik fokussieren und das machen, was mir am meisten Spaß macht: Themen zum Fliegen bringen und dann abgeben. Schiere Masse finde ich nicht wirklich herausfordernd, da gibt es andere, die das bedeutend besser können und sich mehr damit identifizieren.

Diese Konsolidierung des Bereichs kostete mich zwischen zehn und elf Jahre. Am Ende hieß der Bereich nur noch »Optics and Electronics«. Dahinter verbargen sich Materialien und Technologien für diese Anwendungsfelder, Branchen und Märkte, womit wir auch großen Erfolg hatten. Parallel dazu trieb ich das Thema 3D-Lithographie und Mehrphotonenpolymerisation voran, wohlgemerkt neben meiner Vollstelle im Management. Vieles entstand dabei an den Wochenenden, an Feiertagen und in den Abendstunden. Das war anstrengend, hat aber tierisch Spaß gemacht.

Hat sich da schon die Idee für die Ausgründung abgezeichnet?

Die Idee der Ausgründung entstand bereits 2007. In diesem Jahr stellte ich das Thema Ausgründung das erste Mal in einem meiner Planungskreise strategisch vor. Ich suchte damals zusammen mit unserem damaligen Kunden, der AT&S AG, einem Leiterplattenhersteller aus Österreich, mögliche Anlagenbauer, deren Anlagen man in eine Prototypen- und Pilotproduktion in der Leiterplattenumgebung verwenden konnte. Wir sprachen Anfang 2008 mit einigen Kandidaten, darunter auch dem späteren Wettbewerber der Multiphoton Optics, der Nanoscribe GmbH. Diese wollte jedoch nicht die gewünschte Anlage bauen. Die Idee war eine Anlage zu kaufen, so dass ich dann mit einem Team den Prozess soweit entwickeln konnte, dass wir sehr schnell skalieren konnten.

Nur dass wir uns hier richtig verstehen: In den Jahren 2007 und 2008 hatten wir bereits in 6 Kanälen etwa 42 Gbit/s Datenrate bei einem sogenannten Bit Error Ratio von 10-9. Für diese Entwicklungen erhielt ich den Joseph-von-Fraunhofer Preis und 2013 den SPIE Green Photonics Award in den USA, zusammen mit einem Diplomanden und einem Doktoranden. Das war der Hammer! Bessere Komponenten, die höhere Datenraten gestatteten, gab es damals noch nicht. Und ich bin davon überzeugt, dass wir relativ locker weitaus mehr hätten erreichen können. Immer noch: 800G ist für mich nicht das Thema der von mir und meinen Teams weiterentwickelten Technologien, sondern von der Verfügbarkeit solcher Komponenten. Der Wille der Kunden, etwas anderes zu tun und zu integrieren als gewohnt ist ebenfalls ein wichtiger Faktor. Wo wären wir heute mit der Mikroelektronik, wenn damals nicht anders vorgegangen worden wäre? Die Ausgründung gab es also, weil wir zuerst einmal mit Hardware und Software die Voraussetzungen schaffen mussten, die Früchte unserer Arbeit in Form von Applikationen und Produkten anderer Art verdienen zu können. Die Hardware sollte dabei von Technikern analog zu einem Maskenbelichter bedienbar sein.

Sie hatten die Leitung eines Teams bekommen, mit dem Sie erstaunliche Entwicklungen hervorbrachten. Auch bei der erfolgreichen Multiphoton Optics war es ein vergleichsweise kleines Team. Verraten Sie uns Ihr Leadership-Geheimnis?

Kleine und sehr bewegliche Teams sind für mich der Schlüssel. Ganz wichtig: Der Spaß muss da sein. Kreativität. Pragmatismus. Ich habe viele großartige Menschen gesehen, die auf irgendeine Weise frustriert wurden und die Freude an dem, was sie tun, verloren. Auch stelle ich an mich selbst aber auch andere hohe Anforderungen, weil ich glaube, dass man dadurch schneller ans Ziel kommt. Dabei ist es wichtig, sich in die Mitglieder eines Teams hineinzudenken und es ist essentiell, zu verstehen, wie viel Zeit für ein Projekt nötig ist, um keine unrealistischen Forderungen zu stellen. Aber sehr hoch sollten sie schon sein, das bringt einen schneller ans Ziel und es ist auch weniger langweilig. Es kann im Management immer wieder vorkommen, dass Entscheidungen ungerecht wirken. Erklärt man bestimmte Vorgehensweisen, nimmt man das Team auf jeden Fall deutlich besser mit. Ich habe andersherum auch immer versucht, mich in meine Vorgesetzten hineinzudenken und deren Entscheidungen zu verstehen, insbesondere während meiner Zeit bei Fraunhofer.

Fortschritt und Innovationen sollten nicht durch administrative Hürden verhindert oder verlangsamt werden. Manche Regelungen machen an der einen Stelle Sinn, aber verhindern dafür an anderer Stelle. Als Führungskraft hat man jedoch immer die Möglichkeit, Akzente zu setzen. Gerade zu Beginn meiner Fraunhofer-Karriere war ich häufiger mit solchen Problemen konfrontiert. Mein damaliger Chef meinte dann: Du machst das schon! Somit habe ich auch für größere Posten Verantwortung übernommen, ohne dass ich das in meiner damaligen Position gedurft hätte. Was ich damit sagen will: Es ist eine Frage der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Ein bisschen Anarchismus schadet nicht! Viele Führungskräfte können oder wollen keine Verantwortung übernehmen. Daher brauchen wir entspannte Führung, die auch mal Fehler machen darf, ohne dass sie gleich vor allen heruntergemacht wird.  

Was war aus ihrer Sicht besonders an Fraunhofer?

Man kann hier vieles auf dem kleinen Dienstweg umsetzen, ohne die »große Maschinerie« anzuwerfen, das ist viel effizienter und schneller. So kann man prima Verhinderer aushebeln, denn wenn etwas erfolgreich wird, sind diese gleich zur Stelle, um am Erfolg zu partizipieren. Es gibt bei Fraunhofer immer genügend Leute, die flexibel und kreativ sind. Fraunhofer bietet große wissenschaftliche Freiheiten, die man sich aber teilweise herausnehmen kann oder erkämpfen muss. Tatsächlich hatte mich damals die Institutsleitung unterstützt und auch die Ausgründung gefördert, auch gegen den einen oder anderen internen Widerstand. Man muss verstehen, dass Fraunhofer einen Technologietransfer machen muss und dass das schiere Ausbrüten von Technologien ohne Umsetzung nicht weiterbringt. Auch als Frau und mit Familie bekommt man bei Fraunhofer große Freiräume. Wie gesagt, man muss sie sich auch nehmen und Freiheiten wollen.

Das ISC war für mich mehr als ein Arbeitgeber, es war auch eine Art Hafen. Viele tolle Menschen und Technologien lernte ich dort kennen, obwohl so manches sehr zäh war. Ich habe Fraunhofer als Investor erlebt und nach wie vor spreche ich bei Fraunhofer von »Wir«. Das ist ein gutes Zeichen. Ich blicke mit Wohlwollen auf diese Organisation und ich setze auch heute noch Projekte mit Fraunhofer um. Aber natürlich hatten wir auch unsere Momente. Ich lerne auch heute noch sehr viel, wenn ich zum Beispiel meine Entscheidungen, die ich damals getroffen habe, analysiere. Ich gleiche die auch mit denen aus dem privaten Bereich und denen aus meiner Gründung ab. Daher hatte ich jüngst auch einen Post auf LinkedIn verbreitet: »Alles ist fraktal.«

Wie bei der Mandelbrotmenge?

Man hat eine Struktur und wenn man da reinzoomt, hat man wieder die gleiche Struktur. Bei einer Vorlesung von Benoit Mandelbrot in München in den frühen 1990er Jahren entstand die Idee zu einer Theorie. Und auch wenn ich das wissenschaftlich noch nicht ausformuliert habe, so begriff ich doch, dass man in unterschiedlichen Gebieten bestimmte Dinge immer wieder in der gleichen Art findet und verwenden kann.

Mechanismen aus der Technologie begegnen uns im persönlichen Bereich und auf gesellschaftlicher Ebene wieder. Man kann diese von einem Arbeitsgebiet in das andere übertagen und so strukturiert an Probleme herangehen. Auf diese Weise schaffe ich es, viele verschiedene und für andere nicht zusammenhängende Projekte erfolgreich zu erledigen. Struktur bedeutet aber nicht, dass man nur noch gewisse Dinge tun darf, Flexibilität muss immer gegeben sein. Dass das eine Fähigkeit beziehungsweise eine Stärke ist, habe ich erst sehr viel später begriffen.

Oft hatte ich den Eindruck, dass meine Mitmenschen mich nicht verstehen, sehr schlimm war das 2007. Markus Riester, mit dem ich gemeinsam 2013 die Multiphoton Optics gründete, empfahl mir deshalb das Buch »Wild Duck« von Gunter Dueck. Dank des Buches verstand ich, wie ich ticke und in welche »Kategorie« ich gehöre und konnte trainieren, besser mit Menschen umzugehen, die eine andere Art zu denken haben als ich, was leider die Mehrzahl ist. Es nutzt aber nichts, aneinander vorbei zu kommunizieren. Immer, wenn ich vergesse, dass meine Gedanken in anderen »Schritten« als die der breiten Masse laufen, nehme ich die »Wild Duck« zur Hand.

Neben Ihrer Berater-Tätigkeit entwickeln Sie das Projekt Society6.0. Was möchten Sie damit erreichen?

»Society6.0 - Bewegung für Menschen und Umwelt« ist eine eingetragene Genossenschaft in Gründung. Mittlerweile sollten die Unterlagen auch beim Registergericht liegen. Wir wollen eine Bewegung für Menschen und Umwelt. Wir sind ein Netzwerk für eine nachhaltige und verantwortungsvolle Gesellschaft und adressieren alle Themen aus Wirtschaft, Technologie und Sozialem. Man kann unsere gesellschaftliche Entwicklung und die dringlichen Themen nicht mehr singulär betrachten. Wir setzen auf die Transformation von einer Industrie- in eine wissensbasierte Gesellschaft und Befähigung auf allen Ebenen durch einen ganzheitlichen Ansatz. Jeder Mensch soll befähigt werden, eigene Stärken zu entwickeln und für sich und andere zu nutzen. Viele stecken in einem Job oder einer Situation fest, weil sie eine Veränderung nicht wagen. Und genau das wollen wir mit der Genossenschaft Society6.0 erreichen: Nicht jammern, sondern tun!

Vereine, Institute, Unternehmen, Schülerinnen und Schüler, Arbeitslose und alle anderen möchten wir in einem Netzwerk zusammenbringen. Nur auf diese Weise verändern wir unsere Gesellschaft zum Besseren. Wir brauchen ordentlich aufbereitete Fakten, die nicht von einem Wahlkampf oder Interessensgruppen geleitet sind, um so einer weiteren Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Wir haben inzwischen sogar unser erstes Mitglied aus USA. Das bedeutet, wir möchten eine weltumspannende Bewegung anstoßen und den Beweis antreten, dass man von Deutschland aus innovative Ideen etablieren und eine sozio-ökonomische Disruption erreichen kann. Wir brauchen ein starkes Europa. Deutschland kann und muss da einen maßgeblichen Beitrag leisten, der sich nicht im Verteilen von Geld äußern sollte, sondern in einer ganzheitlichen Befähigung. Wir brauchen produktive Industrien, Handwerk und Infrastrukturdienstleistungen.

Wie setzen Sie diese Ziele um?

Wir bieten Veranstaltungen und Seminare an, etwa in unseren Auftaktveranstaltungen »Was können Technologien für Nachhaltigkeit tun?«, »Nachhaltigkeit am Bau« oder auch »Grüne Datenzentren«. Für die Veranstaltungen, die jeweils auf Deutsch und auf Englisch gehalten werden, habe ich herausragende Sprecher gewinnen können. Etwas Kummer macht mir der Fakt, dass es bis dato nur männliche sind. Ein weiteres Beispiel ist eine Seminarreihe für Kinder zum Thema Uhrmacherhandwerk, das wir zusammen mit Rolf Lang Dresden an verschiedenen Orten in Deutschland anbieten. Wir wollen früh in der Entwicklung ansetzen und daher vor allem Kinder und Jugendliche fördern, denn Kinder und Jugendliche sind einfach cool. Angstfrei. Stellen Sie sich vor, ein Erwachsener müsste laufen lernen wie ein Baby. Der würde vor lauter Angst zu fallen, vermutlich nicht beginnen es zu lernen. Die probieren, machen, scheitern, machen wieder. Kinder entwickeln Versagerängste erst, wenn sie durch Schule und Umgebung »zurechtgestutzt« werden. Deutschland ist da ganz besonders merkwürdig aufgestellt. Das wurde mir aus der eigenen Erfahrung als Mutter deutlich: Als ich mit meinem damals fünfjährigen Sohn, der Englisch und Deutsch sprach, aus den USA zurückkam, konnte er das Alphabet und den Zahlenraum bis 20. In Deutschland hat er sich im Kindergarten nur noch gelangweilt und ich bekam zu hören, dass es nicht gut für ein Kind sei, zu früh so etwas zu lernen und zu fordern.

Sehen Sie Bedarf in Deutschland beim Thema Bildung?

Wir sortieren zu viel vor und zu viel aus. Menschen und Kinder müssen sich entwickeln können. Wir glauben, in Deutschland ein großartiges Bildungssystem zu haben, aber wir produzieren etwa 8 Millionen funktionale Analphabeten. Die Dunkelziffer dürfte noch etwas höher liegen. Davon übrigens 50 Prozent deutschstämmig. Die Zahlen sind vom Statistischen Bundesamt aus dem September 2019. Wie passt das mit »gutem Bildungssystem« zusammen?

Auf der anderen Seite haben wir inzwischen ein sehr verschultes Studium. Grauenvoll. Bei Betrachtung meines Studienbuchs stellte ich fest, dass ich nach 7 Semestern meinen Abschluss plus Diplomarbeit hätte machen können. Faktisch habe ich aber 13,5 Semester gebraucht. Der Grund: Im Sommer bin ich lieber mit dem Motorrad nach Frankreich zum Baden und Feiern gefahren. Hat es mir geschadet, bin ich deswegen dümmer? Nein! Zahlreiche Freunde und Bekannte hatten das ähnlich gemacht und sind heute in wirklich tollen Positionen, leiten Unternehmen und sind sich selbst treu. Dafür haben wir vor keiner Herausforderung Angst, denn wir mussten uns selbst alles erarbeiten und gewisse Fertigkeiten lernen. Im aktuellen Universitäts- und Schulsystem wären wir alle ausgesiebt worden. Dafür bekommen wir heute als Unternehmerinnen und Unternehmer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, denen wir unter großem Zeit- und Kostenaufwand zeigen müssen, wie man etwas organisiert oder lösungsorientiert angeht. Das Problem wird einfach auf die Unternehmen verlagert. Bei den großen Unternehmen fällt es nicht auf, wenn die Leute faktisch erst einmal unbrauchbar sind, weil genügend Personal und Geld vorhanden sind, das abzufedern. Bei kleinen Unternehmen hat das dramatische Auswirkungen. Ich kann da als Startup-Gründerin ein Lied von singen. Unter einem Land mit einem guten Bildungssystem verstehe ich anderes. Da wollen und müssen wir hin. Wir unterstützen also in unserem genossenschaftlichen Netzwerk auch Unternehmen und das Handwerk durch unsere Aktivitäten.

Was kommt als nächstes?

Fraunhofer hat mir vieles ermöglicht, ohne diese Station wäre ich nicht dahin gekommen, wo ich jetzt bin. Ich bin guter Dinge und werde mich die nächsten Jahre dem Projekt Society6.0 widmen und noch vielen coolen technologischen Themen, die Ideen gehen mir sicher nicht aus. Optimieren kann man ja immer. Ohne die Menschen, die mich begleitet haben, angefangen von meiner Familie, über meine Kolleginnen und Kollegen an der Uni, in den USA und natürlich auch ganz besonders bei Fraunhofer, hätte ich meine Ziele nicht erreicht. Das ist keine Lobhudelei. Ich habe tatsächlich gerne bei Fraunhofer gearbeitet, auch wenn mich das System manchmal in den Wahnsinn getrieben hat. Wenn man sich aus dem raushält, was einen ärgert und sich stattdessen darauf konzentriert, Dinge voranzubringen, dann funktioniert das auch. Immer schön nach vorne blicken.

Vielen Dank für das Gespräch, und viel Erfolg mit Ihren jungen Projekten, Frau Houbertz!