»Die Zukunft der Arbeit wird extrem dezentral sein« Fraunhofer-Venture Alumna Dr. Tina Ruseva

Warum sollte man ein Unternehmen gründen, das keinen positven Nutzen hat? Tina Ruseva hat mit Mentessa eine Mentoring-Plattform aus der Taufe gehoben, für dessen Technologie sich auch große DAX-Konzerne interessieren.

Wie funktionieren Communities? Warum wird eine Software zum Erfolg? Wie bekommt man schnell Hilfe bei einem konkreten Problem? Tina Ruseva berät die Europäische Kommission, hat das Festival Big & Growing aus der Taufe gehoben, ist Autorin, in verschiedenen Programmen und Greminen vertreten und gründete nach dem Studium ein erstes Unternehmen. Einige DAX-Unternehmen führen gerade die Mentoring-Plattform ihres zweiten Start-ups Mentessa ein. Die Idee dazu kam der gebürtigen Bulgarin, weil sie von zahlreichen Mentoring-Formaten so frustriert war, dass sie schließlich mit einem eigenen Konzept auf den Markt gegangen ist. Vernetzung war auch Thema ihrer Arbeit für Fraunhofer Venture TechBridge, wo sie das Format TandemCamp ins Leben rief, das Fraunhofer-Wissenschaftler mit Unternehmern in Wachstumsunternehmen zusammenbrachte.

Dr. Radostina Ruseva
© Enno Kapitza
Nach Studium, Promotion, einer ersten Unternehensgründung, Familienpause, der Gründung eines Festivals führt die Computer-Wissenschaftlerin inzwischen Gespräche mit großen deutschen Konzernen, die ihre Mentoring-Plattform Mentessa, das zweite Startup der promovierten Innovationsmanagerin, einführen wollen.
Dr. Tina Ruseva moderiert eine der zahlreichen und hochkarätig besetzten Diskussionsrunden in der virtuellen Ausgabe des New-Work-Festivals Big and Growing
© Big and Growing-Festival
Dr. Tina Ruseva moderiert eine der zahlreichen und hochkarätig besetzten Diskussionsrunden in der virtuellen Ausgabe des New-Work-Festivals Big and Growing

Frau Ruseva, Frauen als Tech-Gründerinnen sind eher die Ausnahme. Wie kam es bei Ihnen dazu?

Nach meinem Informatik-Studium fing ich 2007 bei Microsoft in einem zugegebenermaßen sehr gut bezahlten Tech-Job an. Ich habe da zum ersten Mal erfahren, wie sich geregelte Arbeitszeiten anfühlen: das war ultralangweilig! Ich wollte definitiv mehr. Ich bewarb mich auf ein Vollzeit-MBA-Programm über die TU München und zusammen mit der Zusage habe ich sofort gekündigt. In dem MBA-Studium erstellte ich Businesspläne, beschäftigte mich mit Entrepreneurship und Finanzierung und damit, was an unsere Zeit anders ist. Ab diesem Zeitpunkt gab es für mich als Gründerin kein Zurück mehr.

Was war nach dem MBA für Technologie- und Innovation-Management der nächste Schritt?

Ich wurde schwanger. Ich hatte den Kopf voller Businesspläne und Geschäftsideen und stand als »weiße Frau« in Europa zum ersten Mal vor einer echten Herausforderung: Ich konnte nicht mehr wie bisher »einfach machen«.

Vor allem aber konnte ich nicht mehr ins Fitness-Studio gehen. 2009 waren auf Youtube die Filme auf 4 Minuten beschränkt, Es gab also keine vernünftige technische Möglichkeit für längere Kurse im Internet. Ich sehnte mich nach den Aerobic-VHS-Kassetten meiner Mutter mit Jane Fonda und etwa zur gleichen Zeit brachte Apple das erste iPhone. Die Geschäftsidee hinter dem Start-up GymZap war daher ein absoluter No-Brainer.

Was war GymZap?

Im Kern war das Fitness über das Internet, sozusagen eine Art Youtube für hochwertige Trainings-Einheiten mit etwa 40 Minuten. Es hat ganz gut funktioniert, aber 2009 war die Bereitschaft für solche Inhalte zu bezahlen noch verhalten. Das änderte sich ab 2012 und 2013. Als ich aber ein weiteres Mal Mutter wurde, bin ich ausgestiegen. 80 bis 90 Stunden pro Woche zu arbeiten lässt sich mit einem Baby nur schwer vereinen.

Also wieder geregelte Arbeitszeiten?

Ich habe mich mit schwerem Herzen vom Startup-Leben verabschiedet. Nach einer Station bei United Internet bin ich zur Fraunhofer-Gesellschaft gewechselt. Das war ein »Match in Heaven«. Natürlich gibt es auch hier Hierarchien und Vorgaben, aber diese großartige Idee der dezentralen Struktur fördert Innovationen, Forschung und letztlich den Standort Deutschland. Es ist wirklich eine einzigartige Organisation, etwas, das ich bis dato noch nicht kannte. Meine Zeit war sehr stark an den Werten der Gesellschaft orientiert. Wir haben im Team in einer Demokratie gelebt und vieles entstand in einem offenen Innovationsansatz – Bottom up. Das habe ich sehr genossen und ich habe viel mitgenommen.

Nichts desto trotz sah ich für mich als Gründerin innerhalb der Fraunhofer-Gesellschaft wenig Raum. Aber auch wenn es vielleicht nicht ganz das war, was ich suchte, hat mir dieser Job unglaublich viel Mut und Zuversicht gegeben, um mein nächstes Startup zu gründen. Die Erfahrung von Freiheiten und demokratischen Abläufen waren ein extrem wichtiger Baustein in meiner Karriere.

Was genau war Ihre Aufgabe bei Fraunhofer?

Ich war in der coolsten Abteilung: Fraunhofer Venture. Ich habe zusammen mit Andreas Aepfelbacher und meinem Kollegen Niels Dietzsch das Projekt Techbridge aufgebaut, das sich um Kooperationen mit Start-ups kümmert. Das Projekt war das erste für eine automatisierte Zusammenarbeit mit Wachstumsunternehmen, um in einem Open-Innovation-Modell Ideen von außen in die Fraunhofer-Gesellschaft zu bringen. Wenn ich mich in ferner Zukunft ausgetobt habe, ist Fraunhofer auf jeden Fall eine Sache, die ich mir ein zweites Mal überlegen werde.

Die Idee, Expertisen und Innovationen zusammenzubringen zieht sich durch Ihr Arbeitsleben?

Nach Fraunhofer bin ich zunächst als Leiterin zu Werk1, einem Start-up-Incubator des Bayerisches Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie. Eine meiner Aufgaben war es, für die Gründer*innen aus dem Gründerzentrum der Stadt München ein Mentoring-Programm aufzubauen. Als Frau, Tech-Gründerin, Migrantin und junge Mutter wurde ich natürlich von jedem Mentoren-Programm akquiriert, als Mentee und Mentorin. Aber ich war immer irgendwie unzufrieden mit diesen Programmen mit viel Marketing, vielen Treffen und Gesprächen. Die haben als Orientierungshilfen oder Vernetzungsplattformen durchaus ihre Daseinsberechtigung. Wenn man aber beispielsweise als frisch angestellte Arbeitnehmerin auf konkrete Ergebnisse in einem Digitalisierungsprojekt angewiesen ist und jemanden mit Expertise bei Changemanagement oder Transformationsprozessen sucht, sind solche Programme sehr frustrierend.

Was könnte man besser machen?

Nimmt man eine Organisation wie die Fraunhofer-Gesellschaft, dann gibt es viele Menschen, die genau das Wissen mitbringen, das man gerade in einem Projekt braucht. Und jetzt stellt man sich vor, dass all diese Köpfe, sich mit der gesamten Bandbreite ihrer Skills für den Vorteil der Fraunhofer-Gesellschaft einsetzen, das wäre doch grandios! Das würde für mindestens 1.000 weitere MP3-Erfolgsgeschichten ausreichen.

Wie ging es nach der Station im Werk1 weiter?

Ich sollte diese Gründer*innen zusammenbringen. Nachdem ich an mehr als 30 Mentoren-Programmen beteiligt war, machte ich mir die Erfahrungen und Kontakte zu Nutze. Als Informatikerin bin ich natürlich bestrebt, repetitive Aufgaben von einer Maschine machen zu lassen. Daher war ich auf der Suche nach einem Tool, das dieses Matching automatisiert. Allerdings gab es keine Lösung, die in einer dezentralen Organisation funktioniert und die Diversität der Gründer und der Mentoren abbildete. So kam mir die Idee zu Mentessa. Außerdem waren da auch die Kinder schon groß genug und ich konnte im März 2019 loslegen.

Erstaunlich, dass es solche Tools nicht bereits gibt?

Matchmaking ist tatsächlich ein großes Thema, bis zu 23 Prozent der Digitalisierungs-Budgets der HR-Abteilungen werden dafür verwendet, einen Job zu einem Talent, oder Talente innerhalb der Organisation zu einem Projekt zu bringen. Dieser Markt wächst seit einigen Jahren zweistellig. Es existieren daher Lösungen am Markt, die aber alle auf längerfristige Job-Rotationen mit zentralisierten Abläufen ausgerichtet sind. Wir konzentrieren uns genau auf die Punkte »Diversity« und »Dezentralisierung«. Ein Team, das jeden Tag zusammenarbeitet, braucht Mentessa nicht. Wir unterstützen große Organisationen, und Menschen in agilen Netzwerken, die eine Idee haben und sich beispielsweise fragen, »Wer kann mir bei Künstlicher Intelligenz helfen?«.

Gibt es denn dafür genügend Bedarf?

Die Zukunft der Arbeit wird extrem dezentral sein. Das gilt für Locations wie auch für die Art der Zusammenarbeit, die zunehmend interdisziplinär wird. Selbstorganisierte Arbeit und rotierenden Rollen lösen starre Team-Strukturen ab. Denkt man das weiter, dann ist man auch innerhalb einer Organisation irgendwann eine selbständige Kraft. Und spätestens an diesem Punkt ist ein Tool nötig, über das schnell und zielgenau Hilfe bereitgestellt werden kann. Auch wenn unsere Kunden das nicht gerne hören: Mentessa ist eine Art Tinder für Mentoring, weil es damit so einfach ist, die richtigen Skills zu finden.

Außerdem ist diese Dating-App Gerüchten zufolge deshalb so erfolgreich, weil sich die Nerds im Silicon Valley nicht getraut haben, andere anzusprechen. Aber das »Hilfe holen« bei der Arbeit ist im gleichen Maße mit Introvertiertheit und psychologischen Ängsten verbunden. Mentessa ist kein soziales Neztwerk wie LinkedIn, in dem man sich vermarkten und Content posten muss, um gesehen zu werden. Wir bieten nur Profile oder Skills und eine automatisierte Vernetzung. Mentessa hat inzwischen einige wirklich große Unternehmen als Kunden gewonnen.

Wie baut man so etwas auf?

Zunächst habe ich mir ein Team über das Innovation-Lab von Wayra zusammengesucht. Man braucht Partner, mit denen man eine große Geschichte umsetzen kann. Ohne die bleibt es eine Idee. Um diese Wayra-Community herum entstand der erste Prototyp und wir konnten in dieser Gemeinschaft auch schnell unsere Ideen testen. So hatten wir schnell vorzeigbare Prototypen. Da Mentoring inzwischen auch im Corporate-Umfeld als wichtig empfunden wird, waren schnell Vertriebsgespräche bei großen deutschen Organisationen möglich. Zudem erreichen uns auch aufgrund der Corona-Pandemie sehr viele Anfragen. Unternehmen sind verunsichert und bremsen bei Neueinstellungen. Gleichzeitig müssen die Unternehmen auf die neue Situation reagieren. Manager sind gezwungen, aus dem Skillset, das zur Verfügung steht, das Maximum herausholen. Aber nicht nur Wirtschaftlichkeit und Produktivität profitieren, sondern es entsteht mit diesem Mentoring-Gedanken auch eine neue Unternehmenskultur. Für die Wettbewerbsfähigkeit in einem globalen Umfeld brauchen Unternehmen eine Community.

Dank Internet und Social Media gibt es wohl mehr Communities als je zuvor?

Genau das ist der Punkt! Ich bin TUM-Alumna, LMU-Alumna und in zahlreichen anderen Communities. Viele dieser Gemeinschaften schaffen es aber nicht über die eigenen Strukturen hinaus etwas zu bewegen. Man muss diese Gemeinschaften dezentral operationalisieren und den Nutzern die Macht und die Fähigkeit geben, sich selbst zu vernetzen, sich selbst zu aktualisieren, selbst Content einzustellen. Das ist auch eine Generationenfrage. Viele große Unternehmen haben Millennials als Mitarbeiter und die wollen kein Seminar machen, sondern einen Mentor, den sie selbst aussuchen. Wenn man da gleich die Lösung dafür hat, dann kann man der HR-Abteilung sehr viel Arbeit abnehmen.

Was ist das Besondere an Mentessa, was ist die Rocket-Science?

Darauf kommt es nicht an! Wir sind umgeben von Software, die keine besondere Innovationen liefern, die aber dennoch von vielen genutzt wird. Was über Erfolg und Misserfolg entscheidet ist User-Experience! Nicht alle Bedürfnisse lassen sich mit einem Tool erledigen. Heute sind Apps exakt EIN Anwendungsfall, EINE User-Experience, EIN Why. Wenn ich mich beim Fraunhofer-Alumni e.V. anmelde, muss klar sein, warum ich das mache: Um mich zu vernetzen!

Vernetzung ist doch auch über die bekannten Tools möglich?

Warum bekommt man bei LinkedIn keine Hilfe? Es gibt auch auf dieser Plattform ein Matching–Modul und ganz viele Menschen mit großartigen Fähigkeiten. Aber warum sollte eine vielbeschäftigte Person, die ich über dieses Netzwerk kenne, helfen, etwas zu lernen? Die Bereitschaft, einander zu helfen ist jedoch viel größer, wenn Mentor und Mentee beide zum Beispiel bei Fraunhofer gearbeitet haben. Genau deshalb wollen immer mehr Unternehmen eigene Communitys schaffen: Mit Zugehörigkeit und Mitgefühl kann man sehr gut Menschen an eine Organisation binden. Aber In Sozialen Netzen und im Web ist einfach zu viel Lärm. Deswegen holen Unternehmen das wieder in die eigene Kontrolle zurück.

Wie geht es jetzt mit der Gründung weiter?

Mit dem Shutdown kamen die ersten Anfragen und wir haben inzwischen erste DAX-Unternehmen als Kunden, wir haben folglich viele Aufgaben zu bewältigen. Wir stellen ein und wachsen. Genau an diesem Punkt fangen Startups an, schwer zu werden. Die Zeit des Träumens ist vorbei. Man kann nicht nur aufbauen und vermarkten, man wird auf den Boden der Tatsachen geholt. Man muss sehr realistisch die Erwartungen der Menschen, die einem geglaubt haben, erfüllen. Das ist jetzt eine sehr heiße Phase, aber ich habe unter anderem mit Dr. Lena Bernhofer ein ganz tolles Team. Wir sind guter Dinge!

Wir bedanken uns für dieses Gespräch und wünschen für den weiteren Weg alles Gute, Frau Ruseva.