Die UAM unterliegt hohen Anforderungen an Fluggeräte- und Systemtechnik. Gefragt sind sichere, geräuscharme VTOL (Vertical Take-Off and Landing)-Systeme, die gleichzeitig über sehr hohe Antriebsleistungen im Schwebeflug verfügen.
Herausforderungen des städtischen Luftverkehrs
Elektrisch betriebene Multicopter bieten VTOL-Agilität und erfüllen die Sicherheits- und Umweltkriterien, sind jedoch aufgrund geringer Effizienz und Energiespeicherdichten hinsichtlich Reichweite und Nutzlast stark eingeschränkt. Größere Tragflächen könnten die Energiebilanz durch lange Gleitflugphasen deutlich verbessern, behindern aber Start und Landung in den Metropolen. Darüber hinaus wird die UAM nur mit autonom fliegenden VTOL-Fluggeräten wirtschaftlich rentabel zu betreiben sein, wobei KI-basierte Steuerungssysteme zusätzliche Sicherheitsrisiken aufwerfen.
Somit ist abzusehen, dass sich die UAM über verschiedenste Migrationspfade etablieren wird, und so vielfältig, wie sich die Einsatzszenarien in den Bereichen Logistikdrohnen, Lufttaxis, Rettungs- und Überwachungsdrohnen oder in der Landtechnik abzeichnen, werden auch die Aerospace-Technologien gestaltet sein.
Das Fraunhofer-Leitprojekt ALBACOPTER®
Vor diesem Hintergrund startete 2021 ein Fraunhofer-Leitprojekt mit dem Ziel, eine fliegende Plattform aufzubauen, welche die Vorteile agiler Multicopter mit der Effizienz von Gleitern vereint. »Mit dem ALBACOPTER® soll ein Experimentalfluggerät entwickelt werden, das die Manövrierfähigkeit des Multicopters mit der Fähigkeit des Albatros paart, über große Distanzen mit minimalem Energieaufwand segeln zu können« erklärt Prof. Matthias Klingner, Projektleiter und Leiter des Fraunhofer IVI. »Herausragende Besonderheiten des Experimental-VTOL-Gliders sind Drohnenflugkörper und Frachtcontainer aus nachhaltigen Materialien, leistungsdichte Koaxialantriebseinheiten, leistungsstarke Multisensorsysteme zu Umfeldwahrnehmung und Funktionsüberwachung sowie ausfallsichere Bordelektronik mit KI-basiertem Autopilot«, so Klingner weiter. Der Komplexität des Drohnenkonzepts stellt sich das Konsortium durch Bündelung verteilter Institutskompetenzen.
Auf Recyclebarkeit ausgelegt und über innovative Antriebslösungen betrieben
Das Fraunhofer-Institut für Betriebsfestigkeit und Systemzuverlässigkeit LBF entwarf Struktur und aerodynamische Komponenten des ALBACOPTER®. Erstere integriert die am Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie ICT entwickelten Pultrusionsprofile, also stranggezogene Profile, die eine aus faserverstärktem Thermoplast bestehende Spaceframe-Architektur bilden. Ebenso wie die aus Biopolymer-Hartschaum hergestellten Transportcontainer sind diese Systemkomponenten leicht recycelbar. Gemäß Prof. Frank Henning, Leiter des Fraunhofer ICT, »basiert das effiziente Antriebskonzept des ALBACOPTER® im Gegensatz zu den heute zumeist mit Direktantrieben ausgerüsteten eVTOL-Systemen auf leistungsdichten, hochdrehenden Synchronmaschinen mit mehrstufiger Übersetzung.« Für realitätsnahe Erprobungen schwenkbarer eVTOL-Antriebe in den Leistungsklassen bis zu 450 kW stellt das Fraunhofer ICT neben der neuen Antriebstechnologie einen speziellen Antriebsprüfstand zur Verfügung.
»Das Batteriespeicherkonzept des ALBACOPTER® beruht auf zyklenfesten Sekundärzellen, die hochreversible Lade- und Entladeprozesse gewährleisten. Die Degradation der Zellen und mögliche Ausfallmechanismen bei Strömen, wie sie in Flugphasen mit besonderen Leistungsanforderungen auftreten, wurden von uns detailliert untersucht« erläutert Prof. Tobias Melz, Leiter des Fraunhofer LBF.
Sicherheit mittels moderner Sensortechnik und Künstlicher Intelligenz
Robuste, hoch performante und leichte Multisensorsysteme bilden in Kombination mit den empfindlichen Einzel-Photonen-LiDAR-Detektoren des Fraunhofer-Instituts für Mikroelektronische Schaltungen und Systeme IMS die Grundlage für die lückenlose Umfelderfassung. »Die semantische 3D-Rekonstruktion der Umgebung erfolgt anschließend auf Basis von vertrauenswürdigen KI-Systemen. In Verbindung mit der intelligenten Trajektorienplanung lassen sich darüber innovative Funktionen realisieren, so z. B. die autonome (Not-)Landung, die zu den wichtigsten Sicherheitsfeatures des ALBACOPTER® zählt« erklärt Henri Meeß, Gruppenleiter »Hochautomatisiertes Fliegen« am Fraunhofer IVI.
Zusammen mit einer ausfallsicheren RISC-V-Bordnetzarchitektur, einem kontinuierlichen Monitoring, einer stabilen 5G-Kommunikation und einem redundanten Autopiloten ergibt sich ein dediziert auf die hohen Zuverlässigkeitsanforderungen der UAM ausgerichtetes Gesamtsystem. Dem Autopiloten untergeordnet ist die modellbasierte Fluglageregelung des Fraunhofer-Instituts für Entwurfstechnik Mechatronik IEM, die insbesondere in den kritischen Transitionsphasen zwischen Schwebe- und Gleitflug ein stabiles Regelverhalten aufweist.
Autonom an den Start
Der ALBACOPTER® soll Fraunhofer-Technologien demonstrieren, die in den stark wachsenden Aerospace- und Logistik-Branchen voraussichtlich in den kommenden fünf bis acht Jahren nachgefragt werden. Zwischen Heli- bzw. Multicopter und konventionellem Starrflügler etablieren sich derzeit die sogenannten hybriden Copter-Glider in Form von Schwenkflüglern sowie Multicoptern mit ausfahrbaren Tragflächen und Schwenk-rotoren. Als VTOL-Glider wird der ALBACOPTER® zur Erprobung dieser unterschiedlichen VTOL-Technologien zur Verfügung stehen.
Die Konzeptvalidierung erfolgt in mehreren Stufen an geeigneten Flugmodellen, Experimenten im Windkanal, Iron-Bird-Aufbauten sowie XiL-Systemsimulationen am digitalen Zwilling des Fraunhofer-Instituts für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung IOSB. Eine skalierte Drohnenversion mit sieben Metern Spannweite und ca. 25 Kilogramm Nutzlast wird im Herbst 2023 abheben, bevor Anfang 2024 umfangreiche Flugtests für den ALBACOPTER® zu erwarten sind.
Erste Highlights präsentiert das Konsortium auf der IAA MOBILITY in Halle B1, Stand D11, vom 5. bis 8. September 2023 in München.