Die ärztliche Versorgung wird im ländlichen Raum zum Problem. Laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung werden in Deutschland etwa 11 000 Hausarztstellen bis 2035 unbesetzt sein. Damit droht fast 40 Prozent der Landkreise die hausärztliche Unterversorgung. Die Situation ist angesichts einer alternden Gesellschaft, aufgrund des zunehmenden Fachkräftemangels und des prognostizierten Rückgangs an Landärzten prekär. Diesem Problem begegnen die drei Fraunhofer-Kerninstitute des Fraunhofer ZDD® (siehe Kasten) sowie das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF im Projekt Neighborhood Diagnostics mit einem technologieoffenen, schnell anpassbaren, modular aufgebauten Digitalen Ökosystem. Es soll Ärzte und Fachpersonal entlasten, schnelle, frühzeitige Diagnosen und eine gute Patientenversorgung ohne weite Anfahrtswege gewährleisten. »Mit dem Digitalen Ökosystem verfolgen wir einen offenen Ansatz – ein wichtiger Aspekt für Industriepartner, mit deren Expertise wir das Forschungsvorhaben Neighborhood Diagnostics von Anfang an gemeinsam vorantreiben«, sagt Simon Scherr, Projektleiter und Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE. Die Erprobungsphase startet zunächst in der Modellregion Brandenburg mit dem Fokus auf der Versorgung chronisch Erkrankter. Das Konzept soll sukzessive auf die ruralen Regionen aller Bundesländer ausgeweitet werden.
Digitale Plattform des Ökosystems bietet Schnittstellen für Dienste Dritter
Das digitale Gesundheitsökosystem ist auf mehreren Säulen aufgebaut: Herzstück ist eine digitale Plattform, in der alle medizinischen Daten zusammenfließen. Sie vernetzt alle erforderlichen medizinisch-diagnostischen Komponenten miteinander und bietet offene Schnittstellen für Dienste und Anwendungen Dritter. An die Plattform angebunden sind Wearables, die über die installierte, im Projekt entwickelte Neighborhood Diagnostics App Vitaldaten wie Blutdruck, Blutzuckerspiegel, Puls und Herzfrequenz in die Plattform des Ökosystems übertragen. Sie spielen ebenso wie Home Monitoring Devices eine wichtige Rolle bei der medizinischen Vorsorge und warnen etwa bei auffälligen Messwerten. Die Plattform wird künftig in der Lage sein, Daten zu interpretieren und Diagnosen abzuleiten. In der Folge können gesundheitsbezogene Leistungen wie Medikamente, Physiotherapien und vieles mehr empfohlen werden.
Vor-Ort-Diagnostik dank Gesundheitsstationen
Eine wichtige Säule des Digitalen Ökosystems sind Gesundheitsstationen, die lange Anfahrtswege zu Arztpraxen überflüssig machen und in der letzten Ausbaustufe die Funktionen eines vollautomatisierten Labors übernehmen sollen. Dort können Patientinnen und Patienten Proben und Testkits aller Art abgeben, aber auch entnehmen. Hierfür müssen sie sich lediglich registrieren und einer Schritt-für-Schritt-Anleitung folgen. Die Tests werden in der Station durch ausgeklügelte Industrierobotik autonom durchgeführt und – sofern erforderlich – gekühlt gelagert. Die Ergebnisse liegen wenig später vor. Je nach Krankheitsfall könnten sie direkt vor Ort, via App oder über den Arzt an Patientinnen und Patienten übermittelt werden. »Im Prinzip sind die Gesundheitsstationen im medizinischen Sektor das Pendant zu den Bankhäuschen mit Geldautomaten und Kontoauszugsdruckern, wo kein Personal mehr beschäftigt ist«, zieht Scherr den Vergleich zum Finanzsektor. Die über die Gesundheitsstation erhobenen Daten werden ebenfalls an die digitale Plattform übertragen; aus Datenschutzgründen findet dort jedoch keine Speicherung statt.
Die Gesundheitsstationen sind frei konfigurierbar und ausbaubar und können den Bedarfen der jeweiligen Region angepasst und mit unterschiedlichen diagnostischen Angeboten ausgestattet werden. In der Erprobungsphase werden die Gesundheitsstationen zunächst in Pflegeheimen und Einrichtungen für betreutes Wohnen aufgestellt. »Digitale Lösungen haben das Potenzial, die Patientenversorgung künftig zu verbessern. Angesichts des sich verschärfenden Pflegenotstands können die Gesundheitsstationen im Rahmen des Digitalen Ökosystems dazu beitragen, den Pflegenotstand zu entspannen«, sagt Dr. Thomas Tradler, Leiter Business Development am Fraunhofer-Institut für Zelltherapie und Immunologie IZI.
Technologieoffener, datengetriebener Ansatz
Auch Hersteller von Medizintechnik wie Sturzerkennungssensoren oder Blutdruck-messgeräten können Daten an die digitale Plattform mit offenen Schnittstellen sen-den, ohne den Weg über die Neighborhood Diagnostics App zu gehen: Die Daten können direkt übertragen werden. »In Anwendungsfällen, die eine engmaschige Überwachung von Patienten erfordern, ist dies sinnvoll und dokumentiert zugleich den technologieoffenen, datengetriebenen Ansatz unseres Systems«, so Scherr.
Vereinfachte Datengewinnung
Der Austausch aller beteiligten Dienste und Partner findet über die digitale Plattform statt, sie vernetzt alle Akteure des Gesundheitswesens sowie die Patientinnen und Patienten dank offener Schnittstellen. Zugleich ermöglicht sie eine vereinfachte und schnellere Datengewinnung mit dem Ziel, Ärzte und Pflegepersonal zu entlasten, Erkrankten weite Anfahrtswege zu ersparen, Krankheiten frühzeitig diagnostizieren zu können und eine digital gestützte dezentrale Gesundheitsversorgung fern der Ballungszentren zu gewährleisten. Da die sichere Verwaltung von Patientendaten und die Wahrung des Datenschutzes in einem so sensiblen Umfeld wie dem Gesundheitswesen oberste Priorität haben, werden die Daten nicht in der digitalen Plattform gespeichert, sie verbleiben auf den Devices der im Ökosystem eingebundenen Akteure.
Das Projekt Neighborhood Diagnostics wird vom 13. bis 16. November 2023 auf der MEDICA in Düsseldorf am Fraunhofer-Gemeinschaftsstand (Halle 3, Stand E74) vorgestellt.