Online-Gerichtsverhandlungen gewinnen immer mehr an Bedeutung. Seit der Corona-Krise arbeiten Gerichte zunehmend an der Einführung digitaler Gerichtsprozesse. Die Vorteile: Gerichtsverfahren können zügiger durchgeführt werden und lange Anreisen der Beteiligten entfallen. Neben dem flüssigeren und effizienteren Gerichtsbetrieb sprechen Kosten- und Zeitersparnisse für die virtuellen Prozesse. Kritiker hingegen verweisen auf die noch nicht ausgereifte, notwendige Technik und auf verfahrensrelevante Fragen: Wie lassen sich einwandfreie Video-Übertragungen gewährleisten? Wie kann der Prozess mit seinen detaillierten Verhaltensregeln ins Digitale übertragen werden? Diesen Fragestellungen widmen sich Forschende der Fraunhofer Austria Research GmbH. Unterstützt werden sie dabei unter anderem von Prof. David Tait, Forscher an der Western Sydney University. Mit dem Virtual Court-System entwickeln sie eine Software, mit der sich der Einsatz von Videotechnik in der Ziviljustiz optimieren und ausbauen lassen soll. Vorgesehen ist das Setting in virtuellen Gerichtssälen zunächst für kleinere Delikte wie Nachbarschaftsstreitigkeiten.
Während viele Videokonferenz-Anwendungen den Nutzern mittels VR-Brillen das Gefühl vermitteln, am selben Ort zu sein, setzen die Fraunhofer-Forschenden in diesem Projekt nicht auf VR. Vielmehr erfolgt die Bildausgabe über den Monitor. Die Prozessbeteiligten kommunizieren mit Hilfe von Avataren – 3D-Grafikfiguren, die die reale Person repräsentieren – im virtuellen Raum. Vor dem Start der Verhandlung im virtuellen Gerichtssaal wählen die Beteiligten die für sie entsprechende Rollenspezifikation wie Richter, Verteidiger, Staatsanwalt, Zeuge oder Angeklagter. Eine Webcam nimmt das Gesicht auf. Mittels Eyetracking erfasst die Software, die auf einer 3D-Grafikengine aufsetzt, in welche Richtung der Anwender sieht. Dieser Blick wird in eine Kopfbewegung des Avatars umgesetzt – ein direkter Blickkontakt zwischen den Gesprächspartnern wird simuliert. Dieser Aufgenkontakt fehlt aktuell noch in Videokonferenzen via MS Teams oder Zoom.
Video-Konferenzen auf Augenhöhe
»Für die virtuellen Gerichtsverhandlungen mit unserem System ist keine komplizierte technische Ausrüstung erforderlich. Die Prozessbeteiligten setzen sich entweder in einem öffentlichen Gebäude, einer Polizeistation oder im Homeoffice vor den Laptop mit Webcam. Das ist ausreichend, um am Virtual Court teilzunehmen«, sagt Dr. Volker Settgast, Wissenschaftler im Geschäftsbereich Visual Computing bei Fraunhofer Austria in Graz. In der virtuellen Repräsentation des Gerichtssaals sehen sich alle Anwender und erkennen dank des Eyetrackings, wer sie gerade ansieht. Die Webcam erfasst nicht nur die Augenbewegungen, sondern auch die Mimik. »Da die Webcam Mundbewegung und Gesichtsausdruck aufnimmt, sind Rückschlüsse auf den Gemütszustand der Teilnehmenden möglich«, so Settgast. »Bei klassischen Videokonferenzen wird das Videobild übertragen, dies entfällt bei unserem System durch den Einsatz der Avatare. Lediglich der Audiostream und die aus dem Eyetracking und der Mimikerkennung resultierenden Daten werden übertragen. Der zu transferierende Datenstrom ist daher reduziert.«
Geplant ist, die virtuellen Gerichtssäle länderspezifisch anzupassen, auch die Avatar-Animation soll verbessert werden. Beispielsweise wollen Settgast und sein Team die Hände der Teilnehmenden in die Gestenerkennung integrieren. Künftig soll die Software auch im Browser laufen. Erste Workshops und Anwendertests der Betaversion fanden bereits am Visualization Research and Teaching Laboratory Harvard University, Department of Earth & Planetary Sciences und an der Université de Montréal’s Cyberjustice Laboratory statt. »Letztendlich wollen wir das Gerichtssetting komplett in den virtuellen Raum verlagern und Video-Konferenzen auf Augenhöhe für Zivilgerichte realisieren. Da Augenbewegungen, Mimik und Gestik erkennbar sind, können künftig Gerichtsprozesse mit persönlichem Charakter auch digital durchgeführt werden«, so der Forscher.
Diese Vorlaufforschung wurde im Rahmen einer Projektförderung des Österreichischen Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft gefördert.