Ob durch einen Unfall beim Sport oder die Volkskrankheit rheumatoide Arthritis: Wenn Fingergelenke unbeweglich werden, ist das eine gravierende Einschränkung und physische und psychische Belastung – für bestimmte Berufsgruppen wie Musiker, Chirurginnen oder Handwerker bedeutet es häufig sogar das Karriereende. In Zukunft könnte eine Entwicklung der Fraunhofer-Einrichtung für Additive Produktionstechnologien IAPT, des Fraunhofer-Instituts für Keramische Technologien und Systeme IKTS, des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM, des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM und des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medizin MEVIS dazu beitragen, dass Finger mit zerstörten oder geschädigten Gelenken ihre Beweglichkeit zurückerlangen.
Bisherige Therapie geschädigter Fingergelenke
Verliert heute ein Fingergelenk durch Unfall oder Erkrankung seine Funktion, so sind die Behandlungsmethoden eingeschränkt: Meist wird eine Versteifung durchgeführt, was Patientinnen und Patienten in ihrem Alltag aber stark beeinträchtigt. Soll ein Implantat gesetzt werden, gibt es auf dem Markt derzeit zwei Optionen: Silikonimplantate, die sich in vielen Fällen schnell wieder lösen und durch einen erneuten Eingriff revidiert werden müssen, oder einfach gearbeitete Standard-Implantate, die lediglich in bestimmten Größenstufen angeboten werden und nicht alle Bewegungen ermöglichen. Eine passgenaue Lösung, die nicht verrutscht und die vorherige Beweglichkeit wiederherstellt – also ein individualisiertes Implantat – sollte daher das Ziel der optimalen Versorgung von Patientinnen und Patienten sein.
Projekt FingerKIt: Viele Innovationen, ein zukunftsweisendes Produkt
Im Projekt FingerKIt haben fünf Fraunhofer-Institute nun ein Konzept entwickelt, mit dem das gelingen könnte: In einer automatisierten Prozesskette sollen individualisierte Fingergelenksimplantate aus metallischen oder keramischen Werkstoffen schnell, sicher und zertifiziert hergestellt werden. Dafür entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Fraunhofer MEVIS zunächst eine KI-gestützte Software, die in der Lage ist, aus zweidimensionalen Röntgenaufnahmen dreidimensionale Modelle der Fingerknochen zu errechnen und eine potenzielle Fehlstellung der Finger zu korrigieren. Anschließend leiten Forschende des Fraunhofer IAPT das individuelle Implantatdesign anhand einer KI aus dem Fingermodell ab und setzen es im 3D-Druck um. Nachdem es gilt, sehr feine und filigrane Strukturen abzubilden, arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Fertigung mit Metall-Binder-Jetting, also dem schichtweisen Aufbau der Teile, die in einem nachfolgenden Schritt gesintert – d.h. verdichtet und gefestigt – werden. Am Fraunhofer IKTS erfolgt die Fertigung der Implantate im Near-Net-Shape-Manufacturing – ebenfalls ein Fertigungsverfahren, mit dem Produkte möglichst nahe der gewünschten Endkontur entstehen, sodass nur wenige Nachbesserungen erforderlich sind. Auch keramische Materialien kommen dank der Expertise des Fraunhofer IKTS zum Einsatz. Diese werden im Schlickerguss – einem speziellen Gipsform-Gussverfahren – verarbeitet. Um die Fragestellungen zur biologischen Verträglichkeit und Zertifizierung der Implantate kümmert sich das Fraunhofer ITEM, um die Simulation der mechanischen Belastungen das Fraunhofer IWM.
Während der Arbeit im Projekt haben die Forschenden mehrere Innovationen entwickelt: »Die KI-basierte Berechnung eines dreidimensionalen Implantatdesigns aus 2D-Vorlagen wie Röntgenbildern ist völlig neuartig und inzwischen zum Patent angemeldet«, verrät Dr. Arthur Seibel aus dem Bereich Bauteil-Design am Fraunhofer IAPT. Sein Kollege Dr. Philipp Imgrund, Abteilungsleiter Prozessqualifizierung am Fraunhofer IAPT, ergänzt: »Auch die Prozesstechnik ist etwas Besonderes: Weil die Struktur des Implantat-Schafts sehr filigran ist, haben wir als 3D-Druck-Verfahren das Metall-Binder-Jetting für Titan eingesetzt. Das Verfahren ermöglicht die sehr präzise Fertigung der kleinen, komplexen Implantate und erlaubt es gleichzeitig, die Oberfläche des Schafts so zu strukturieren, dass dieser besser in den Knochen einwächst. Weiterhin können wir so die Nachbearbeitung der Gelenkflächen minimieren, die möglichst glatt und reibungsarm sein müssen.«
Ein neuer Standard für die Versorgung?
Die Ergebnisse des Projekts FingerKIt sind eine gute Nachricht für alle Patientinnen und Patienten, denen bisher nicht zufriedenstellend geholfen werden konnte. Durch die Fraunhofer-Innovationen könnten in Zukunft auch komplizierte Fälle – stark gekrümmte Finger, fehlende Knochenteile, sehr kleine Gelenke – sehr gut behandelt werden.
Die Individualanfertigung ist dank automatisierter Modellerstellung und 3D-Drucks zudem zeitsparend: Ersten Berechnungen der Forscher zufolge wäre es möglich, bis zu 60 Prozent der üblicherweise benötigten Zeit von der Feststellung des Bedarfs bis zum Einsetzen eines Implantats einzusparen. Eine Versorgung ist so innerhalb von wenigen Tagen vorstellbar, was durch kürzere Liegezeiten auch geringere Kosten in Krankenhäusern verursacht. Ein weiterer Vorteil: Aufgrund der dem Original-Gelenk nachempfundenen Konstruktion wird eine im Vergleich zu bisherigen Lösungen deutlich verbesserte Beweglichkeit erreicht. Dr. Imgrund fasst zusammen: »Mit FingerKIt könnte sich die Behandlung etwa der rheumatoiden Arthritis völlig verändern. Die Versorgung mit einem individualisierten Implantat könnte zum Goldstandard werden.«
Wachstumsmarkt Fingergelenksimplantate
Laut Deutscher Gesellschaft für Rheumatologie leiden rund zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland an entzündlich-rheumatischen Erkrankungen – die meisten von ihnen möchten auch im fortgeschrittenen Alter nicht auf eine gute Lebensqualität verzichten. Interessant ist die Neuentwicklung auch für Patientinnen und Patienten, die durch Verletzungen beeinträchtigt sind. Im Vergleich etwa zu Fuß- oder Sprunggelenksimplantaten ist der Markt für die Remobilisierung von Fingergelenken noch deutlich unterentwickelt. Die Experten schätzen, dass das Gesamtpotenzial im Jahr 2026 bei 5,8 Millionen Euro liegt.
Technologisch ist die Entwicklung innerhalb von FingerKIt inzwischen so weit fortgeschritten, dass das Produkt gemeinsam mit einem Partner aus der Medizintechnik zur Marktreife gebracht werden könnte: Die KI-basierte Design-Erstellung und die Fertigung funktionieren; es existieren bereits ausstellungsreife Implantate. Im nächsten Schritt soll der Weg zur Zulassung beschritten werden. Dr. Imgrund: »Derzeit sind wir auf der Suche nach Unternehmenspartnern, die uns mit ihrem Know-how helfen können, unsere KI-erstellten Medizinprodukte auf den Markt zu bringen.«