Die Zahl der Versuchstiere in Deutschland ist seit Jahren weitgehend konstant. 2 825 066 Tiere wurden im Jahr 2018 nach Angaben des Bundesministeriums für Land-wirtschaft und Ernährung BMEL eingesetzt. Dr. Sylvia Escher ist als Abteilungsleiterin
In-silico-Toxikologie am Fraunhofer ITEM in Hannover auf der Suche nach Alternativen zum Tierversuch. »Wir arbeiten an unserem Institut mit mehreren Gruppen an neuen Konzepten zur Risikobewertung von Chemikalien«, erklärt die Chemikerin. Als Beispiel nennt sie das EXITOX- und das EU-ToxRisk-Projekt. In diesen Projekten werden Teststra-tegien basierend auf menschlichen Zellenlinien und Organschnitten entwickelt, die die Anzahl von Tierversuchen reduzieren und langfristig ersetzen sollen.
Schonende und bessere Alternative
Das Ziel ist nicht nur eine schonendere, sondern auch eine bessere Alternative. In den traditionell eingesetzten Tierstudien werden nach Gabe der Testsubstanz toxische Effekte beobachtet, wie z.B. Entzündungen oder Gewebeveränderungen im Organ. Hierbei gilt es zu bewerten, ob eine kontinuierliche Exposition zu Schäden im Organismus führt oder ob eine geringe Konzentration des Stoffs, wie sie zum Beispiel täglich durch die Atemluft aufgenommen wird, unkritisch ist. »Im Rahmen von EU-ToxRisk und EXITOX untersuchen wir nun den Wirkmechanismus der zu dem beobachteten toxischen Effekt führt. Da wir im Unterschied zu den Tierstudien humane Testsysteme einsetzen, haben wir die Hoffnung, dass die Ergebnisse für den Menschen von höherer Relevanz sind«, verdeutlicht Sylvia Escher die Vorteile.
Neun Fallstudien laufen bei EU-ToxRisk, an drei dieser Studien ist das Fraunhofer ITEM mit mehreren Arbeitsgruppen beteiligt. Dr. Tanja Hansen, Arbeitsgruppenleiterin In-vitro-Testsysteme, untersucht aktuell die Toxikologie von flüchtigen Verbindungen am Beispiel von Diketonen. Der bekannteste Vertreter dieser Stoffgruppe ist das Diacetyl, eine chemische Verbindung, die natürlicher Bestandteil von Butter ist und industriell hergestellt als Butteraroma dient – unter anderem zur Aromatisierung von Popcorn.
Simulation mit menschlichem Gewebe
Was passiert, wenn Menschen Diacetyl einatmen? Kann der Stoff die Lunge schädigen? Sylvia Escher und Tanja Hansen nutzen zur Beantwortung dieser Fragen eine Apparatur, die am Fraunhofer ITEM entwickelt wurde: den P.R.I.T.® ExpoCube®. Damit können sie simulieren, wie flüchtige Substanzen auf Zellen und Gewebe einwirken.
Menschliche Bronchialepithelzellen werden auf Membranen an der Luft-Flüssigkeitsgrenze kultiviert, um so die Situation in der Lunge zu simulieren. Mithilfe des P.R.I.T.® ExpoCube® wird gasförmiges Diacetyl über die Oberfläche der Zellen geleitet. Anschließend werden Effekte auf die Zellen mit biochemischen Methoden untersucht. Durch umfangreiche Genexpressionsanalysen können die Forscher erkennen, welche Gene die Zellen an- bzw. ausgeschaltet haben. Aus diesen Daten lässt sich ermitteln, welche Signalwege im Inneren der Zelle aktiviert wurden. Das können zum Beispiel Signalwege sein, die zur Produktion entzündungsfördernder Botenstoffe führen.
Im nächsten Schritt erfolgt die Untersuchung auf dem Niveau der Organe. Dazu nutzen die Forschenden lebende, kultivierte Gewebeschnitte aus menschlichen Lungen, die viele Funktionen des Organs besitzen. Genau wie die Zellkulturen werden auch die Lungenschnitte im P.R.I.T.® ExpoCube® gegenüber Diacetyl exponiert und anschließend analysiert.
Um das Verhalten von inhalierten Stoffen im Körper zu simulieren, stellen die Projektpartner komplexe Modellberechnungen an, die sie als In-silico-Methoden bezeichnen. Diese computergestützten Modellierungen bilden schon weitestgehend ab, wie ein Stoff nach der Inhalation im Organismus absorbiert, verteilt und ausgeschieden wird. »Die In-vitro- und In-silico-Daten ergeben zusammen ein genaueres Bild, wie Stoffe wie Diacetyl die Lungen schädigen«, berichtet Sylvia Escher.
Daten ähnlicher Substanzen nutzen
Erster Schritt, um alternative Methoden in die Risikobewertung zu integrieren, ist der »Read-Across-Ansatz«. Will man eine neue Chemikalie nach diesem Verfahren zulassen, sucht man nach ähnlichen Substanzen, für die es bereits toxikologische Daten aus Tierversuchen gibt. Im Read-Across werden diese Daten dann auf die neue Chemikalie übertragen. »Dieser Ansatz wird heute bereits angewendet. In der Praxis ist bisher jedoch schwer nachzuweisen, dass zwei Stoffe so ähnlich sind, dass sie auch wirklich dieselbe Toxizität haben«, betont Sylvia Escher. »Daher werden die Read-Across-Ansätze oft nicht von den Zulassungsbehörden akzeptiert.«
Die Projektteams haben in den Fallstudien Gruppen eng verwandter Substanzen unter-sucht und umfassende In-vitro- und In-silico-Daten erhoben. Bei diesen Untersuchungen konnten sie zeigen, dass die alternativen Methoden bestens geeignet sind, die Toxizität strukturell verwandter Stoffe zu bestimmen.
Regulatorische Behörden eingebunden
Bei EU-ToxRisk sind neben Universitäten, Forschungsinstituten und Unternehmen auch regulatorische Behörden beteiligt. Der intensive Austausch mit den Toxikologen der Behörden ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg der entwickelten integrierten Teststrate-gien. Denn nur wenn die nationalen und EU-Behörden die neu entwickelten Verfahren zur Toxizitätsprüfung zulassen, können Tierversuche auch wirklich ersetzt werden.