Fensterglas kennt man für gewöhnlich als flache Scheibe. Normalerweise wird beim Bau eine Öffnung in der Hauswand ausgespart, in die später das Fenster eingesetzt wird. Außergewöhnlich sind da Fenster, die um die Ecke gehen – etwa um an den Fronten von Bürogebäuden oder Appartementhäusern Akzente zu setzen. Zu diesem Zweck verbinden Fensterhersteller bislang zwei Fensterscheiben über Eck mit einer Metallschiene oder verkleben diese. Forscherinnen und Forscher vom Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik IWM in Freiburg haben jetzt eine neue aufsehenerregende Methode entwickelt, um eckige Glasfronten zu verwirklichen: Sie können Glasscheiben nahezu scharfkantig biegen – um 90 Grad zum Beispiel. Damit bauen sie die Ecke gleich ins Glas ein. »Wir haben inzwischen viele positive Rückmeldungen von Architekten bekommen«, sagt Tobias Rist, am Fraunhofer IWM Experte für Glasformgebung und Leiter der Gruppe Glasformgebung und -bearbeitung. »Viele fragen, wann es die Eckfenster zu kaufen gibt. Unsere Laboranlage aber verarbeitet nur Glasscheiben von der Größe eines Quadratmeters – so können wir Prototypen herstellen.« Das Freiburger Team hat deshalb großes Interesse daran, mit Partnern das Glas auf große Formate zu skalieren.
Glas mit scharfem 90-Grad-Knick
Natürlich gibt es heute bereits Maschinen, auf denen Glas gebogen wird. Doch lassen sich keine engen Kurven erreichen; ein scharfer 90-Grad-Knick war bisher nicht möglich. Zudem büßt das Glas bei üblichen Biegeverfahren oftmals an optischer Qualität ein. Denn um eine Glasscheibe zu biegen, muss eine fertige Glasscheibe erneut erhitzt und dadurch weich gemacht werden. Da die Scheibe dabei in Metallformen in der Maschine liegt, kann sich das Glas an den Auflagepunkten verformen. Im erkalteten Glas bleiben dann schwache Abdrücke sichtbar, die später auffallen, wenn man nah am Fenster steht. Hinzu kommt, dass sich an der Glasoberfläche durch den Umformprozess Wellen bilden. Dadurch passiert es, dass die Scheibe später an planen Flächen Licht unterschiedlich reflektiert. Die Reflektionen von Gegenständen wie Schildern oder Bäumen erscheinen dann auf der Glasfassade in den gebogenen Bereichen verzerrt, genauso wie die Sicht von innen nach außen störend verzerrt wirkt.
Eigens entwickelter Spezialofen
Das IWM-Team umgeht diese Probleme mit einem selbst entwickelten Spezialofen. Während des Biegeprozesses wird nicht die gesamte Scheibe so stark erhitzt, dass sie weich wird, sondern nur der Bereich, in dem das Glas gebogen werden soll. Das erledigt ein Laser, dessen intensive Strahlung mit Spiegeln über die Biegestelle geführt wird. Die Forscherinnen und Forscher heizen den Ofen auf rund 500 Grad vor und bleiben damit knapp unter dem sogenannten Glasübergangspunkt, jener Temperatur, bei der Glas weich wird. »Der Laser muss das Glas an der entsprechenden Stelle dann nur noch um wenige Grad bis zum Glasübergangspunkt erhitzen, damit wir biegen können«, erläutert Tobias Rist. Das Biegen funktioniert in diesem Fall mit Schwerkraft: Die Glasscheibe wird so im Ofen platziert, dass sie an der zukünftigen Biegung keinen Kontakt zur Unterlage hat. Erhitzt der Laser in diesem Bereich das Glas, biegt sich die Platte aufgrund der Schwerkraft von ganz allein nach unten. Da nicht die ganze Scheibe bis zum Weichwerden erhitzt wird, entstehen an den Auflagepunkten keine Druckstellen. Die Glasscheibe bleibt außer an der Biegestelle perfekt glatt.
Aufeinander abgestimmte Biegeradien für Sandwichstrukturen
Bevor die Anlage in Betrieb ging, hatten die Forscherinnen und Forscher den Biegeprozess zunächst aufwendig am Computer modelliert. Sie berechneten, wie schnell sich der Laser bewegen muss, damit das Glas in gewünschter Weise und möglichst gleichmäßig weich wird. Glas ist ein schlechter Wärmeleiter und daher musste unter anderem auch berechnet werden, wie schnell der Laser die Scheibe von der Oberfläche bis in die Tiefe durchdringt – oder wie stark sich die Wärme vom Laserpunkt seitlich in die Scheibe ausbreitet. Mit den Erkenntnissen aus den Modellierungen ging es dann ans Experimentieren. »Jetzt wissen wir, wie wir den Laser steuern müssen, um die Scheibe in gewünschter Stärke zu biegen, um den sogenannten Biegeradius, also die Ecke, genau einzustellen«, sagt Tobias Rist. »Einen engen 90-Grad-Knick in dieser Form gibt es bisher nirgends – insofern waren die Architekten, die unsere Scheibe gesehen haben, hellauf begeistert.« Zudem sei es möglich, mehrere Scheiben mit aufeinander abgestimmten Biegeradien zu erzeugen, um diese dann zu Sandwichstrukturen, zu Verbund-, Sicherheits- und Isolierglasscheiben zusammenzusetzen.
Doch bei der Architektur allein soll es nicht bleiben, sagt Tobias Rist. Er sieht noch eine Reihe weiterer Anwendungsgebiete – etwa das Industriedesign. So wären Haushaltsgeräte denkbar, deren Außenhaut aus durchgängigem Glas besteht, sodass nicht verschiedene Metall- oder Plastikplatten für die Front und die Oberseite zusammengefügt werden müssen. So könne man etwa die Oberseite des Gerätes spaltfrei in die scharf abgeknickte Vorderseite laufen lassen und dahinter das Touch-Display als Bedienelement montieren. Die Konstruktion wäre zugleich sehr schick und aufgrund fehlender Fugen einfach zu reinigen.
Für die Medizintechnik wären Glasoberflächen in Sachen Hygiene von Vorteil. Geräte aus Stahl können zerkratzen. Keime, die in den Kratzern sitzen, lassen sich häufig nur mit großer Hitze oder aggressiven Reinigungsmitteln abtöten. Geräte mit einer Glasoberfläche hingegen, ließen sich sehr viel leichter reinigen, da Glas kaum zerkratzt und auch sehr scharfe Reinigungsmittel erträgt. »Durch das Biegen wäre es möglich, die Oberseite und die Wände solcher Geräte aus einem Guss zu fertigen«, sagt Tobias Rist. »So lassen sich auch Kanten und Stöße vermeiden, an denen sich Keime festsetzen können.« Insgesamt dürfte es für das biegsame Glas eine große Fülle neuer Anwendungen geben, auch für Inneneinrichtungen wie Vitrinen oder Kühltheken. Die Freiburger sind daher auch an einer Zusammenarbeit mit Geräteentwicklern aus ganz unterschiedlichen Branchen interessiert.