Etwa 270 000 Menschen erleiden hierzulande jedes Jahr einen Schlaganfall – eine plötzliche Durchblutungsstörung im Gehirn. Diese muss schnellstens ärztlich behandelt werden. Andernfalls sterben so viele Gehirnzellen ab, dass der Patient bleibende Schäden wie Lähmungen oder Sprachstörungen davonträgt oder sogar stirbt. Ärzte therapieren den Hirnschlag immer häufiger durch eine Thrombektomie, einen Eingriff, bei dem über einen Gefäßzugang in der Leiste ein dünner Katheter über die Hauptschlagader bis in das verschlossene Hirngefäß vorgeschoben wird. Im Bereich des Gefäßverschlusses öffnet sich ein sogenannter Stent-Retriever – ein winziges korbähnliches Geflecht – und verhakt sich mit dem Gerinnsel. Beim Zurückziehen des Katheters bleibt der Pfropfen an der Geflechtstruktur hängen und wird so entfernt. Dieses Verfahren dauert 45 Minuten bis zu 3,5 Stunden, je nach Expertise des Operateurs. Die Thrombektomie setzt eine lange Ausbildung und viel Übung voraus. Allein zehn bis 90 Minuten benötigt der Mediziner – je nach Patient –, um den Katheter zum Blutgerinnsel zu navigieren. Diese Problematik adressieren Forscherinnen und Forscher der Mannheimer Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie PAMB, die an das Fraunhofer-Institut für Automatisierung und Produktionstechnik IPA angegliedert ist. Mithilfe eines robotischen Assistenzsystems – einem computergesteuerten Katheter – wollen sie eine zuverlässigere und schnellere Variante der Therapie etablieren. Die Besonderheit: Der Katheter wird durch Methoden der Künstlichen Intelligenz autonom zum Ort des Eingriffs navigiert. »Die Operation selbst, also das Herauslösen des Blutpfropfens mithilfe des Stent-Retrievers, führt nach wie vor der Arzt durch. Aber die komplizierte Navigation dorthin, bei der schwierige Anatomien zu überwinden sind, soll künftig ein autonom gesteuerter Katheter erledigen«, sagt Johannes Horsch, Wissenschaftler der Projektgruppe. »Die autonome Intervention per Katheter eignet sich aber nicht nur bei einem Schlaganfall, sie lässt sich vielseitig anwenden, etwa bei der endovaskulären Operation von Herzinfarkten oder Lebertumoren«, betont der Ingenieur.
Autonome Navigation durch Deep Reinforcement Learning
Ermöglicht werden soll die autonome Navigation durch Deep Reinforcement Learning (DRL), eine Methode, mit der sich neuronale Netze trainieren lassen. Sie ähnelt der Art, wie Menschen lernen. Die Besonderheit von DRL: Der Algorithmus generiert die Daten zum Trainieren des neuronalen Netzes eigenständig durch permanentes Üben am Computer-Simulationsmodell – einer virtuellen Nachbildung eines Gefäßbaums und Katheters, mit der der reale Algorithmus interagieren kann. Die Forscher haben dazu einen zusätzlichen Bewertungsalgorithmus entwickelt, der bewertet, ob die jeweilige Aktion richtig oder falsch ist. Wird der Führungsdraht korrekterweise nach rechts gedreht und an der Verzweigung in das dortige Gefäß geschoben, so erhält der Algorithmus einen Pluspunkt beziehungsweise einen Zahlenwert von beispielsweise »+1«. Bei einer falschen Aktion lautet der Zahlenwert entsprechend »-1«. Auf Basis dieser Rückmeldungen lernt der Algorithmus eigenständig, und das neuronale Netz wird laufend entsprechend angepasst und optimiert. »Mit dem Modell können wir virtuell alle möglichen Bewegungen des Katheters simulieren und das neuronale Netz bis zu einem gewissen Stadium trainieren. In bisherigen Tests am Simulationsmodell waren wir in 95 Prozent der Fälle erfolgreich, sprich der Katheter konnte in einem vereinfachten Szenario problemlos autonom zum Gefäßverschluss navigiert werden. Bis zum Start der MEDICA wollen wir jedoch eine Erfolgsquote von 99 Prozent erzielen«, sagt Horsch.
Damit der Mediziner die autonome Navigation während des Eingriffs nutzen kann, muss der Katheter im Patienten in Echtzeit lokalisiert werden. Hieran arbeitet der Projektpartner, das Fraunhofer-Institut für Digitale Medizin MEVIS. Dort entwickeln die Experten einen »intelligenten Katheter«, der sich mittels faser-optischer Sensorik und ohne Bildgebung im Gefäßsystem lokalisieren lässt. Außerdem trainieren sie neuronale Netze zur Extraktion des Katheters aus fluoroskopischen Bilddaten. Im nächsten Schritt werden die im Simulationsmodell generierten Ergebnisse auf Phantome übertragen, einer Nachbildung eines Gefäßbaums aus Kunststoff.
Steuerungsalgorithmus vereint Erfahrungswissen von vielen Ärzten
Der Steuerungsalgorithmus wird das Erfahrungswissen von vielen Ärzten umfassen und infolgedessen ein schnelleres Navigieren durch den Körper erlauben. Vor allem aber wird die große Streuung der sehr unterschiedlichen Dauer der Eingriffe, bedingt durch die variierenden Anatomien der Patienten, vermieden. Ein weiterer Vorteil: Insbesondere kleine Kliniken, die nicht über entsprechend ausgebildete Spezialisten verfügen, sollen künftig von dem Verfahren profitieren. Sie wären dann in der Lage, endovaskuläre Schlaganfalltherapien durchzuführen, bei denen Katheter zum Einsatz kommen. Diese Eingriffe können in der Regel nur in spezialisierten Schlaganfallstationen – sogenannten Stroke Units – durchgeführt werden.
Komplexes Zusammenspiel zwischen Katheter und Draht
Derzeit navigieren die Forscher in ihren Simulationstests einen Führungsdraht, im nächsten Schritt starten die Untersuchungen mit einem Katheter, der den Draht ummantelt. »Bei einer realen Operation ist der Katheter über den Draht geschoben. Der Katheter wird nachgeschoben, wenn der Führungsdraht in das richtige Gefäß navigiert wurde«, sagt Horsch. Ziel des Teams ist der Einsatz von zwei oder drei ineinanderliegenden Kathetern, die immer kleiner werden, um in die filigranen Blutgefäße im Kopf zu passen, die wesentlich enger sind als die Gefäße etwa in der Leistenregion.
Bis zum Projektende im September 2020 werden die Forscherinnen und Forscher in präklinischen Untersuchungen den Steuerungsalgorithmus am Silikonphantom perfektionieren, das den gesamten Gefäßbaum von der Leiste bis zum Kopf nachbildet. In Anschlussprojekten soll das System insbesondere hinsichtlich der Zuverlässigkeit und Sicherheit weiterentwickelt werden. Daran anschließend sind für klinische Studien zum Nachweis der Sicherheit und Wirksamkeit etwa vier bis fünf Jahre anberaumt. »Es wird sicher noch zehn bis 15 Jahre dauern, bis das System kommerziell in Kliniken eingesetzt werden kann, zuvor sind umfangreiche Forschungsarbeiten sowie klinische Studien erforderlich. Von Gesetzgeberseite ist darüber hinaus die rechtliche regulatorische Zulassung von neuronalen Netzen in der Medizin zu klären«, resümiert der Wissenschaftler. Den Stand ihrer Forschung demonstrieren der Ingenieur und seine Kollegen vom 18. bis 21. November auf der MEDICA in Düsseldorf (Halle 10, Stand G05).