Fahrzeuginsassen bereiten sich instinktiv auf einen Unfall vor, um sich zu schützen: Sie spannen die Muskeln an, stützen sich am Lenkrad ab oder drücken das Bremspedal durch. Dieses Verhalten beeinflusst den Ausgang des Unfalls. Herkömmliche Crashtest-Dummys haben kein Reaktionsvermögen, mit ihnen lässt sich das menschliche Verhalten vor einem Crash nicht abbilden. Im Automotive-Bereich werden daher zunehmend digitale Computermodelle in FE-Simulationen (Finite-Elemente-Simulationen) eingesetzt, um die Bewegungen der Insassen kurz vor dem Unfall nachzuvollziehen und so die Sicherheit von Automobilen zu verbessern. »Die Muskulatur hat einen großen Einfluss darauf, wie ein Fahrzeuginsasse kurz vor einem Unfall reagiert und wie sich der Körper während des Crashs verhält. Hier kann es zu gravierenden Abweichungen gegenüber steifen und kinematisch eingeschränkten Crashtest-Dummys kommen«, sagt Dr. Matthias Boljen, Wissenschaftler am Fraunhofer EMI.
Der Ingenieur und sein Team nutzen Menschmodelle im Rahmen von Finite-Elemente-Simulationen, wobei sie sich bei der Bewertung der Insassensicherheit bei den jüngsten Tests auf die Muskelsteifigkeit fokussierten. »Stützt sich ein Fahrer vor dem Aufprall auf dem Lenkrad ab, so verkürzt sich dabei nicht nur der Muskel, sondern der Muskel wird durch die Kontraktion steifer«, erläutert der Forscher. Das Thema Muskelsteifigkeit wurde in der Vergangenheit bereits von verschiedenen Instituten in Forschungsarbeiten untersucht. Eine Implementierung der Steifigkeitsänderungen im 3D Muskelgewebe von Gesamt-Menschmodellen wurde bislang jedoch nur eingeschränkt berücksichtigt, ebenso wie die Untersuchung der daraus resultierenden Effekte auf die Insassenkinematik.
Diese Lücke adressierte Niclas Trube, Kollege von Boljen, wobei er für seine Untersuchungen das Menschmodell THUMS Version 5 verwendete. Er definierte vier verschiedene Steifigkeitszustände und prüfte den Einfluss dieser Änderungen für einen simulierten frontalen Crash. Das Ergebnis: Die Muskelsteifigkeit beeinflusst das Verhalten der Fahrzeuginsassen entscheidend. Je nach Steifigkeitsgrad sind unterschiedliche Verletzungen bei einem Unfall zu erwarten.
»Diese Erkenntnis könnte von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung der Menschmodelle sein, insbesondere unter dem Aspekt des autonomen Fahrens. Fahrzeuginnenräume werden künftig neu gestaltet, daher müssen auch bestehende Konzepte zu Gurten und Airbags überdacht werden. Menschmodelle sind hier ein wertvolles Hilfsmittel«, sagt Trube.
Gestiegene Anforderungen an die Verkehrssicherheit
Menschmodelle lassen sich darüber hinaus für den Schutz von Fußgängern und Radfahrern nutzen. Dass hier Handlungsbedarf besteht, zeigen aktuelle Studien, die eine Häufung überraschend auftretender Gefahrensituationen durch E-Bikes belegen. E-Scooter, Tretroller mit Elektromotor, werden noch dieses Jahr auf öffentlichen Straßen erlaubt sein. Verkehrsexperten befürchten einen weiteren Anstieg von Unfällen. Mit Menschmodellen können Unfallszenarien im Vorfeld untersucht werden. Je nach Kollisionsverhalten lassen sich Häufigkeit und Intensität der auftretenden Belastungen testen. Hersteller von Protektoren, Helmen und anderen Schutzartikeln könnten von den Empfehlungen profitieren.
Wie der menschliche Körper auf mechanische Belastungen reagiert, ist aber nicht nur für den Verkehrssektor relevant, sondern auch für medizinische und ergonomische Fragestellungen. Wie verhalten sich Materialien aus Implantaten und Prothesen in Relation zu menschlichen Knochen, wenn sie schlagartig beansprucht werden? Wie wirken sich die Vibrationen von Werkzeugen auf den Anwender aus? »Hier bieten sich Menschmodelle an, da wir mit ihnen realistische virtuelle Abbilder schaffen können, die sich experimentell so nicht realisieren lassen«, so Boljen.