Hitzebeständige Materialien für Flugzeugturbinen, Hygieneartikel und Bekleidung werden vielfach aus Polymerfasern hergestellt: Diese bestehen wiederum aus zahlreichen mikrometerdünnen Filamenten, die miteinander verzwirbelt werden. Die Filamente stellt man über Spinnprozesse her – ein Prozess, der ein wenig an eine Spaghettipresse erinnert. Dabei wird das Polymer zunächst mit Lösungsmittel vermischt, um es viskoser – also flüssiger – zu machen. Diese Spinnmasse wird durch eine Spinnplatte gepresst, eine Art Sieb mit Tausenden von Mikro-Löchern. Die entstehenden hauchdünnen Filamente fallen durch einen mehrere Meter langen Schacht, werden dort mit Luft oder Gas trockengepustet und so vom Lösungsmittel befreit. Am Boden des Schachtes werden die einzelnen Filamente auf große Rollen aufgewickelt. Bisher gab es keinerlei Möglichkeit, solche Spinnprozesse in Gänze zu simulieren – die Abläufe sind einfach zu komplex, es müssten Milliarden von kleinsten Raumzellen simuliert werden. Wollen Unternehmen die Prozesse optimieren, war es bislang erforderlich, eine mehrere hunderttausend Euro teure Pilotanlage anzuschaffen und für jeden der unzähligen Parameter Versuche zu fahren.
Exakte Simulation des kompletten Prozesses
Forschende am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM in Kaiserslautern haben nun erstmals ein Simulationswerkzeug entwickelt, das Spinnprozesse mit Tausenden von Fasern abbildet. »Unsere Simulation erfasst nicht nur die Wechselwirkung aller Fasern mit der Gasströmung, sondern auch die Konzentration des Lösungsmittels in jeder einzelnen Faser«, erläutert Dr. Walter Arne, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer ITWM. »Als Ergebnis erhält man also nicht nur die komplette Aerodynamik der Anlage – etwa das Geschwindigkeits- und Temperaturfeld sowie die Lösungsmittelverteilung – sondern auch alle relevanten Zustandsgrößen entlang der Faser, beispielsweise die Temperatur.« Für produzierende Unternehmen heißt das: Sie können Problemen beim Herstellungsprozess schnell und einfach auf den Grund gehen, ihr Verständnis für die maßgeblichen Parameter vergrößern und neue Herstellungsprozesse vergleichsweise einfach auf größere Mengen umstellen. Ein Beispiel: Sind die Turbulenzen im Schacht zu groß, so dass die einzelnen Filamente immer mal wieder aneinanderstoßen und miteinander verkleben, können Dr. Arne und seine Kollegen die Strömungsführung mit Hilfe der Simulation untersuchen und sie durch neue Bauteile so optimieren, dass dieses Problem nicht mehr auftritt. Die Folge: Der Produktionsausschuss sinkt, die Qualität der Filamente steigt.
Verschiedene Vereinfachungen führen zum Ziel
Verschiedene neue Funktionen ermöglichten es dem Forscherteam am Fraunhofer ITWM, den Aufwand der Simulation bewältigbar zu halten. »Wir gehen zunächst einmal von der Strömung im Schacht aus, wie sie ohne die Filamente wäre. Die Filamente selbst betrachten wir nicht als dreidimensionale ausgedehnte Objekte, sondern als eindimensionale Kurven«, erklärt Arne. Nun flattern jedoch nicht nur die Filamente in der Strömung, sondern sie wirken umgekehrt auch auf die Strömung ein. Denn da sie mit einer Geschwindigkeit von ein bis zehn Metern pro Sekunde gen Boden sausen, beschleunigen sie die Luft um sich herum – ähnlich wie ein vorbeisausender Zug dies tut. Um diese gegenseitige Wechselwirkung in der Simulation zu berücksichtigen, machen die Forschenden mehrere Berechnungsschritte hintereinander. So beginnen sie im ersten Schritt mit der Strömung ohne Filamente. Daraus berechnen sie die Bewegung und die Parameter der Filamente, und speisen diese Daten wiederum in die Berechnung der Strömung ein. Auf diese Weise rechnet die Simulation so lange »im Kreis«, man spricht dabei auch von Iteration, bis ein Gleichgewichtszustand erreicht ist und sich die Werte nicht mehr ändern.
Eine Information, die für die Optimierung des Spinnprozesses relevant ist, spuckt die Simulation auf diesem Wege jedoch noch nicht aus: Wie ist das Lösungsmittel in den Filamenten verteilt? Denn während sie außen durch den Luftstrom sehr schnell trocknen, hält sich das Lösungsmittel im Inneren recht lange. Doch die Filamente werden eindimensional betrachtet – so als ob sie keine Ausdehnung und somit keinen Querschnitt hätten. Eine dreidimensionale Betrachtung sprengt den Rahmen des Machbaren. Auch hier greifen die Wissenschaftler in die »Trickkiste«: Sie bleiben bei der eindimensionalen Darstellung, ergänzen diese allerdings um eine weitere Komponente, und zwar um die radiale Verteilung des Lösungsmittels. Wie viel Lösungsmittel befindet sich im Inneren des Filaments, wie viel am Rand?
Die Simulation an sich ist einsatzbereit, die Forscherinnen und Forscher haben damit bereits verschiedene Spinnprozesse bei Kunden optimiert. Michael Rothmann, Head of Development beim Kunden BJS Ceramics, zeigt sich begeistert: »In unserer aktuellen Zusammenarbeit konnte erstmals der komplette Spinnprozess simuliert werden – wir konnten damit einen Einblick in bisher unzugängliche Teilbereiche des Prozesses erlangen. Diese Ergebnisse ermöglichen es uns, in Zukunft eine gezieltere Prozessoptimierung durchzuführen und damit unsere Entwicklungszyklen zu verkürzen.« In einem weiteren Projekt wollen die Fraunhofer-Forscherinnen und Forscher das Simulationstool so weiterentwickeln, dass es als Software bei den produzierenden Firmen selbst laufen kann. In etwa drei Jahren – so der Plan – soll die Software lizensiert werden.