Der Frühling steht vor der Tür, die Sonne scheint, viele Sportbegeisterte holen ihre Fahrräder aus dem Keller und fahren hinaus in die Natur. Doch je länger die Tour, desto unangenehmer wird es: Der Nacken wird steif, die Finger fühlen sich taub an, die Knie schmerzen. Studien zufolge haben 50 bis 90 Prozent aller Radfahrerinnen und Radfahrer solche Beschwerden. Der Koblenzer Hersteller von Fahrradzubehör Ergon International GmbH kennt diese Probleme. Um das Radeln so bequem wie möglich zu gestalten und Schmerzen zu vermeiden, entwickelt der Mittelständler ergonomische Fahrradgriffe. Bei dem Entwicklungsprozess erhält das Unternehmen Unterstützung vom Fraunhofer LBF. Als Teil des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Darmstadt (siehe Kasten) bringen die Forscherinnen und Forscher des LBF ihre Expertise in den Entwicklungsprozess der Griffe ein.
Virtuelles, numerisches Modell berücksichtigt Parameter wie Druckverteilung
»Griffverbindungen werden heute oft erfahrungsbasiert unter der Beteiligung von Ergonomiespezialisten, Designern und Materialspezialisten konzipiert. Dabei entstehen erste Prototypen, die von Testfahrern getestet und bewertet werden. Die Rückmeldungen der Tester sind subjektiv und die Ergebnisse oft schwer reproduzierbar«, sagt Jan Hansmann, Wissenschaftler am Fraunhofer LBF. Um die bisher langwierigen Testphasen abzukürzen, den Entwicklungsprozess effektiver zu gestalten und Materialkosten einzusparen, haben die Projektpartner in enger Zusammenarbeit eine Methode konzipiert, um eine erste Eigenschaftsabsicherung von Fahrradgriffen mittels numerischer Simulation zu ermöglichen. Mithilfe einer Finite-Elemente-Software erstellen Hansmann und seine Kollegen ein virtuelles, numerisches Modell des Griffs und der Hand, das verschiedene Parameter wie Material, Materialzusammensetzung, Druckverteilung, Dämpfung, Handgeometrie und deren Bestandteile wie Muskel, Haut, Knochen und Gewebe berücksichtigt. Ziel ist es, Griffe zu produzieren, die man nicht spürt, die das Handgelenk entlasten und die auf langen Fahrten kleine Schläge dämpfen sowie Vibrationen abfedern. »Wenn man Prototypen mit unterschiedlichen Materialien ausprobiert, muss man demzufolge vorab verschiedene Materialien herstellen lassen und den Spritzgussprozess immer wieder durchlaufen. Durch die Simulation kann man sich einige Iterationen sparen und muss beispielsweise anstelle von sechs verschiedene Prototypenmodellen nur noch zwei produzieren«, erläutert Hansmann einen Vorteil der Digitalisierung. »Wir sind in der Lage, erste mechanische Eigenschaften zu bestimmen, noch bevor ein realer Prototyp produziert wird.« Ein weiterer Benefit: Die Methode lässt sich auch auf anderes Zubehör übertragen wie etwa den Fahrradsattel.
Um verschiedene Griffe bewerten zu können, hat das Forscherteam darüber hinaus Tests durchgeführt, deren Ergebnisse ebenfalls in der Simulation berücksichtigt werden: Mithilfe von Vibrationstests im Labor prüfen Hansmann und seine Kollegen wie sich Vibrationen – dies gilt vor allem für Fahrten mit Mountainbikes oder Rennrädern – auf die Ermüdung der Unterarme auswirken. Die hierfür erforderlichen Beschleunigungs- und Kraftmesswerte wurden per Elektromyographie (EMG) ermittelt.
Weniger Prototypen erforderlich dank Simulation
Durch die neue Methode ist eine erste, schnelle Einschätzung von Griffen realisierbar, ohne Prototypen herstellen zu müssen. Testfahrten sind zwar nach wie vor erforderlich, aber die Anzahl der erforderlichen Prototypenvarianten lässt sich reduzieren. Darüber hinaus ist man in punkto Tests nicht von Jahreszeiten abhängig, auch die Anzahl der Probanden lässt sich reduzieren. Die Folge ist ein schnellerer Entwicklungsprozess. Zudem werden Werkzeug- und Fertigungskosten in der Entwicklungsphase eingespart. »Digitalisierung ist sehr hilfreich für uns, deswegen möchten wir hier weiterhin Know-how aufbauen. Die Entwicklung der Fahrradgriffe wird möglicherweise die erste von vielen mit digitaler Unterstützung sein«, betont Franc Arnold, CEO der Ergon International GmbH den Erfolg der Zusammenarbeit.