Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen warnt eindringlich vor weitreichenden Konsequenzen für die Umwelt- und Lebenswissenschaften sowie die Biodiversitätsforschung, sollte zukünftig auch die Nutzung von digitalen Sequenzinformationen (DSI)[1] genetischer Ressourcen[2] den Regelungen des Nagoya-Protokolls (NP) und der Konvention über die biologische Vielfalt (CBD) unterliegen. Insbesondere würde die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit in diesen Bereichen erheblich behindert werden. Die bisher unternommenen gemeinsamen Anstrengungen für mehr Transparenz und Offenheit der Wissenschaft (z.B. European Open Science Cloud Declaration[3]) und für den grundsätzlich offenen Zugang zu Daten aus der öffentlich geförderten Forschung würden zumindest teilweise zunichte gemacht.[4]
Die Allianz begrüßt grundsätzlich das NP, welches 2014 in Kraft getreten ist. Ein zentrales Anliegen der Allianz ist es, dass die internationale Zusammenarbeit generell – die Vertragsparteien eingeschlossen – nach den Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis erfolgt. Darüber hinaus haben sich fachbezogene Code of Conducts der einschlägigen Dachverbände bewährt[5].
Bereits 2013 hat die Allianz jedoch in einer gemeinsamen Stellungnahme zum damaligen Gesetzgebungsverfahren der EU auf die Probleme bei der Umsetzung des NP für die nicht-kommerzielle Forschung hingewiesen[6]. Erfahrungen zeigen, dass bereits heute die internationale Zusammenarbeit zur Erforschung der Biodiversität, der Untersuchung von Krankheitserregern und -vektoren in Mensch und Tier sowie von Pflanzenkrankheiten stark behindert werden. Zu den Gründen zählen zeitliche Verzögerungen aufgrund bürokratischer Hemmnisse, Verweigerung der Freigabe von Proben durch die jeweiligen Genehmigungsbehörden sowie bestehende Rechtsunsicherheiten.
Weitreichende negative Folgen für die internationale umwelt- und lebenswissenschaftliche Forschung
Eine Einschränkung des ungehinderten Zugangs zu DSI würde unweigerlich zu einer erheblichen Beeinträchtigung des wissenschaftlichen Fortschritts in den Natur- und Lebenswissenschaften führen, da deraktuelle massive Erkenntniszuwachs hier zunehmend von der Erhebung und Auswertung großer digitaler Datensätze abhängt. Konkret sind folgende Auswirkungen zu befürchten:
- - Digitale Datensätze für nachfolgende Analysen dürften nur noch nach vorheriger Zustimmung durch das Ursprungsland und mit Kenntnis der nationalen Vollzugsbehörde genutzt werden. Die Zustimmung müsste dabei einzeln für jede konkrete digitale Sequenzinformation eingeholt werden. Dies würde beispielsweise für die Evolutionsbiologie, die Stammbäume aus Tausenden von Sequenzen errechnet, oder für die Wirkstoffforschung, die große Datensätze von DNA-Sequenzen analysiert, eine unüberwindbare Hürde darstellen. Bei neu auftretenden Krankheitserregern wäre eine schnelle Verfolgung globaler Ausbrüche im Rahmen der Infektionsforschung nicht mehr möglich.
- - Publikationen, die die Primärdaten bei Einreichung der Manuskripte nicht in die einschlägigen Datenbanken hochladen, werden durch die Fachjournale nicht akzeptiert. Nutzungsbeschränkungen könnten zum einen die Publikationen von Forschungsergebnissen verhindern. Zum anderen wäre die schnelle Replizierbarkeit und Validierung von wissenschaftlichen Ergebnissen gefährdet. Die betroffenen Wissenschaftsdisziplinen sowie jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin wäre in der Ausübung der Forschungstätigkeit damit stark eingeschränkt. In besonderer Weise wären Open Access Zeitschriften und Repositorien betroffen.
- - Die Forschung an den genetischen Ressourcen der Ursprungsländer selbst würde beeinträchtigt, da sie von der Open Access Praxis nicht mehr profitieren können. Es ist zu befürchten, dass internationale Forschung zukünftig vorwiegend in Ländern erfolgt, die das NP nicht ratifiziert haben.
- - Für den Betrieb und die Nutzung digitaler Datenbanken und global vernetzter Forschungs- und Informationsinfrastrukturen entstünden erhebliche zusätzliche Kosten sowie große technische Herausforderungen. Es wäre in der Praxis kaum umsetzbar, der Vielfalt und den spezifischen Anforderungen jedes einzelnen Vertragsstaates in Bezug auf Sequenzdatenbanken gerecht zu werden.
Die Auswirkungen der vorgenannten Punkte würden nicht nur den wissenschaftlichen Fortschritt beeinträchtigen, sondern auch den Zielen der CBD zuwiderlaufen. Die Vertragsstaaten sollten von Artikel 8a des NP Gebrauch machen und Bedingungen schaffen, die einen erleichterten Zugang zu DSI für die nicht-kommerzielle Forschung ermöglichen.
Klare und erleichterte Rahmenbedingungen für den offenen Zugang zu Digitalen Sequenzinformationen
Die Allianz fordert aus den vorgenannten Gründen die an der Entscheidung beteiligten Ressorts in Deutschland und der Europäischen Union sowie das den Beratungsprozess koordinierende Sekretariat der CBD auf, das Nagoya-Protokoll nicht auf die Nutzung der digitalen Sequenzinformationen zu erweitern. Die nicht-kommerzielle Forschung für die Erfassung und den Schutz der Biodiversität sowie für die Gesundheit des Menschen, seiner Ernährung und die Sicherung seiner Lebensgrundlagen muss an den wissenschaftlichen Einrichtungen weiterhin sichergestellt werden, ohne dass faktisch unüberwindbare Hürden in der internationalen Zusammenarbeit errichtet werden.
Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen ist ein Zusammenschluss der bedeutendsten Wissenschaftsorganisationen in Deutschland. Sie nimmt regelmäßig Stellung zu wichtigen Fragen der Wissenschaftspolitik. Fraunhofer ist Mitglied der Allianz und hat für 2018 die Federführung übernommen. Weitere Mitglieder sind die Alexander von Humboldt-Stiftung, der Deutsche Akademische Austauschdienst, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Hochschulrektorenkonferenz, die Leibniz-Gemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Wissenschaftsrat.
Hintergrund: Nagoya-Protokoll und Digitale Sequenzinformationen
Seit dem 12. Oktober 2014 ist das Nagoya-Protokoll (NP), das als eine von zahlreichen Maßnahmen der Umsetzung der Konvention über die Biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD) dient, gültig. Das NP regelt den Zugang zu genetischen Ressourcen (bzw. darauf bezogenem traditionellen Wissen) und den sog. "gerechten Vorteilsausgleich" der sich aus der Nutzung ergebenden Vorteile (Access and Benefit Sharing, ABS). Mit der Umsetzung des NP in der Europäischen Union durch die Verordnung EU Nr. 511/2014[7] gelten für die umwelt- und lebenswissenschaftliche Grundlagenforschung zusätzliche Dokumentations- und Sorgfaltspflichten (sog. Compliance) im Umgang mit biologischem Material aus anderen Vertragsstaaten. Für den Vollzug ist in Deutschland das Bundesamt für Naturschutz (BfN) im Geschäftsbereich des BMUB zuständig.
Auf der 13. Vertragsstaatenkonferenz (COP 13) der CBD und auf dem zweiten Treffen der Vertragsparteien des NP wurde im Dezember 2016 beschlossen, einen ergebnisoffenen Prozess mit den Vertragsparteien und Stakeholdern zu führen[8], um zu prüfen, ob die Nutzung von digitalen Sequenzinformationen (DSI) den Regelungen der CBD und des NP unterliegt. Bisher beschränkte sich das Nagoya-Protokoll auf die Nutzung von genetischem Material.
Eine Entscheidung, ob die DSI in den Anwendungsbereich des NP fallen, soll Ende November 2018 auf der COP 14 getroffen werden. Bis dahin wurde zur fachlichen Unterstützung des Prozesses durch die CBD eine Expertengruppe eingesetzt, die vom 13. bis 15. Februar 2018 tagen wird. Darüber hinaus wurde eine Scoping-Studie[9] in Auftrag gegeben. Die Vertragsparteien und die eventuell betroffenen Stakeholder waren eingeladen, diese Studie bis zum 8. September 2017 zu kommentieren. Viele Vertragsstaaten und Interessensverbände aus aller Welt haben bereits Stellung genommen[10]. Auch die DFG hatte eine Stellungnahme zur Diskussion über die Digitale Sequenz Information (DSI) verabschiedet[11]. In Vorbereitung der COP 14 wird sich die SBSTTA[12], das Beratungsgremium der CBD, vom 2. bis 7. Juli 2018 mit der DSI-Problematik beschäftigen und vermutlich für die COP 14 wegweisende Empfehlungen aussprechen.
[1] Download: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/EN/TXT/PDF/?uri=CELEX:32014R0511&from=DE
[2] Notification 2017-037: https://www.cbd.int/doc/notifications/2017/ntf-2017-037-abs-en.pdf
[3] Peer Review of Fact-finding and Scoping Study on Digital Sequence Information on Genetic Resources: https://www.cbd.int/doc/notifications/2017/ntf-2017-115-abs-en.pdf
[4] Eine Übersicht der Stellungnahmen findet sich hier: https://www.cbd.int/abs/dsi-gr/ahteg.shtml
[5] Download: https://www.cbd.int/abs/DSI-views/DFG-DSI.pdf
[6] Subsidiary Body on Scientific, Technical and Technological Advice
[7] Der Begriff „digitale Sequenzinformationen“ (DSI) wurde durch die politischen Diskussionen in der Convention on Biological Diversity (CBD) geprägt und wird nicht einheitlich verwendet. Vereinfacht dargestellt bezeichnet DSI alle Informationen, die auf molekularbiologischen und biochemischen Methoden basieren.
[8] Laut NP bedeutet der Begriff genetische Ressourcen „jedes Material pflanzlichen, tierischen, mikrobiellen oder sonstigen Ursprungs, das funktionale Erbeinheiten enthält“. Davon sind also auch beispielsweise Wasser- und Erdproben betroffen, wobei humangenetisches Material und genetische Ressourcen, für die spezielle internationale ABS-Regelungen gelten, ausgeschlossen sind.
[9] https://ec.europa.eu/research/openscience/index.cfm?pg=open-science-cloud (26.10.2017)
[10] Nähere Informationen zur CBD, zum NP und zum DSI-Prozess finden Sie am Ende dieser Stellungnahme.
[11] z.B. Code of Conduct des Consortium of European Taxonomic Facilities (CETAF)
[12] Zugang der Forschung zu genetischen Ressourcen sichern! Stellungnahme der Allianz der Wissenschaftsorganisationen vom 23.5.2013.