Dr. phil. Nicola Leibinger-Kammüller
Fraunhofer-Magazin 3.2024
Exzellente Forschung und Innovationen sind die Basis unseres industriellen Wohlstands. Die Gedankenfreiheit der Wissenschaft ist zudem ein Lackmustest dafür, wie es um unsere Gesellschaft steht.
Leben wir in einer Zeit der Gegenaufklärung, wie mancher meint? Wer die Störungen der Lehre an Hochschulen oder die persönliche Kritik an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Netz verfolgt, kann zu diesem Schluss kommen. Egal, ob es dabei um Fragen der biologischen Bestimmtheit der Geschlechter geht, um die genetische Veränderung von Nutzpflanzen, den Klimawandel, die Corona-Pandemie oder jüngst auch um die Anfeindungen Israels und der Juden nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober: Gerade dort, wo die freie Rede eigentlich die Grundlage des Wettstreits um das bessere Argument sein muss, sind zunehmend schrille Töne zu hören. Ein Rückfall in ideologische Denkmuster und determinierende Merkmale, finde ich. Nicht der Aufbruch in eine bessere, freiere Zukunft, in der wir anderen vorurteilsfrei begegnen.
Kein Kind unserer Zeit, und doch bedrohlich
Das Phänomen diskursiver Störungen ist nicht neu. Ich erinnere mich gut an die Siebzigerjahre, in denen ich Geisteswissenschaften studierte. Die Industrie galt unisono als verdächtig, nicht nur die Ausbeutung der Ärmsten zu forcieren (anstatt Wohlstand für viele), sondern für die gesellschaftlich erstmals breit thematisierten Umweltschäden verantwortlich zu sein. Seveso war überall.
Umso frappierender erscheint es mir, dass wir heute – drei Jahrzehnte nach dem so bezeichneten Ende der Geschichte und im Besitz vielfältiger Informationsmöglichkeiten – Gefahr laufen, in ein neues Zeitalter des irrationalen, von Misstrauen gegenüber arrivierten wissenschaftlichen Quellen geprägten Zustands zurückzufallen. Die mediale Penetration noch so abwegiger Standpunkte führt dazu, dass sich die freie Rede Angriffen ausgesetzt sieht, denen man nicht mit den Mitteln des konstruktiven Disputs beikommen kann. Fühlen ersetzt vielfach das Faktische. Und der arbeitsteilige, oft mühsame Prozess der Wissensbildung, wie er den Natur- und Geisteswissenschaften gleichermaßen inhärent ist, wird von Populismus über Nacht infrage gestellt.
Was also ist zu tun? Gewiss mehr, als es ein Gastbeitrag vom Spielfeldrand des Mittelstands aus auch nur ansatzweise zu formulieren vermag! Dass wir auf die Einhaltung der Standards der freien Rede gerade im akademischen Bereich pochen müssen, versteht sich von selbst. Dass wir als deutsche Industrie nur dann eine Chance auf dem zunehmend unbequemen Weltmarkt haben, wenn wir auch über die Grenzen des politisch Erwünschten nachdenken dürfen – sei es in Fragen der Biologie oder auch der Antriebs- und Energietechnologien, die derzeit bei uns vielleicht unter keinem günstigen Stern stehen, aber im Ausland nachgefragt werden: Auch das versteht sich von selbst.
Am Anfang aller Gedanken scheint mir darum das Nachdenken darüber zu stehen, ob wir wieder vertrauen lernen müssen. Vertrauen in ein wissenschaftliches Expertentum, das nur sich selbst und nicht einer politischen Linie verpflichtet ist. Vertrauen in Institutionen. Vertrauen in Informationen, die geprüft und im besten Sinne gefiltert wurden.
Wer öffentlich darüber nachsinnt, ob Deutschland als Industriestandort einen ideologischen Irrweg in der Energiepolitik bestreitet, oder sich ohne jede Not von wichtigen Exportpfaden der automobilen Zukunft verabschiedet, darf nicht zum »Skeptiker« (oder gar Häretiker) erklärt werden, sondern ist eine berechtigte Stimme neben anderen.
Die Welt orientiert sich nicht an uns
Wir werden die Dinge nicht dadurch aufhalten, dass wir uns einreden, die Technologien der Zukunft vorgeben zu können. Die Welt kümmert sich nur bedingt – und meiner Wahrnehmung nach: immer weniger – um die Prioritäten, die hierzulande gesetzt werden.
Selbst wenn der demokratische Prozess in Deutschland darum den einen oder anderen Weg anders als unsere Konkurrenten in Asien oder Amerika beschreiten mag: Wissenschaft bedeutet für mich im Kern auch, eine Fragestellung um ihrer selbst willen zu verfolgen. Und unabhängig von der praktischen Umsetzung sprechfähig zu bleiben, die Optionen geistig stets zu erweitern, anstatt sie zu limitieren, keinen Denkverboten zu unterliegen – und diese Freiheit auch dem anderen zuzubilligen. Ein demokratisches Grundprinzip.
Gerade Bildung und Sprache, die sich auf Toleranz und die Fähigkeit zuzuhören gründen, sind Ausdruck unserer Persönlichkeit. Denn wie der Naturwissenschaftler und Philosoph Max Bense einmal formulierte: Wir werden der Technik nicht entgehen, indem wir die Physik verlernen. Und Exzellenz gedeiht nur in einem Klima geistiger Freiheit.