»Eher Überholspur« - IVV-Alumnus Andre Schult über das Gründen bei Fraunhofer

Andre Schult hat vom Fraunhofer IVV in Dresden heraus ein Unternehmen gegründet, das ein digitales, selbstlernendes Assistenzsystem für Produktionsumgebungen anbietet. Die Idee für das Produkt entstand in einer Sinnkrise, der Entschluss zur Gründung reifte im Laufe seiner Tätigkeit als Gruppenleiter am Fraunhofer-Standort des IVV. Warum der Maschinenbauer in Europas größter Organisation für angewandte Forschung für Gründer ideale Rahmenbedingungen sieht und wo es aus seiner Sicht noch Raum für Verbesserungen gibt, erklärt er in diesem Interview.

Andre Schult, Gründer und CEO des Assistenzsystems PeerOX
© Fraunhofer IVV | Timm Ziegenthaler
Ein selbstlernendes Assistenssystem ist das Projekt des Gründers Andre Schult. Der Maschinenbauer nutzte das Fraunhofer-Institut für Verfahrenstechnik und Verpackung IVV in Dresden als Sprungbrett in die Unternehmensgründung. Noch heute arbeitet er über das von ihm mitgegründeten Unternehmen eng mit verschiedenen Fraunhofer-Instituten zusammen.

Wie haben Sie den Schritt in die Unternehmensgründung bei Fraunhofer erlebt?

Als Projektleiter Assistenzsysteme bei Fraunhofer IVV in Dresden leitete ich ein Team von zuletzt 13 Mitarbeitenden. Das war eine tolle Zeit, in der ich schnell Ideen umsetzen konnte. Ob das eine Besonderheit unseres Instituts ist, kann ich nicht beurteilen, jedoch die enorme Gedankenfreiheit ist in dieser Form sicherlich einzigartig: Als ich die Idee zu dem Assistenzsystem für Produktionsumgebungen hatte, waren weder Psychologie noch Informatik im Kompetenzprofil des Institutes. Dennoch bekam ich von meinen Vorgesetzten Prof. Jens-Peter Majschak und Dr. Marc Mauermann Unterstützung und Zuspruch für meine Idee. Zusammen mit Psychologen starteten wir zunächst einige Forschungsprojekte und bauten ab 2019 um eine lizenzierte Fraunhofer-Technologie mit Maddox ein Softwareprodukt, mit dem wir inzwischen nicht nur bei Pilotkunden erfolgreich sind, sondern auch einen Transferpreis gewonnen haben. Auch heute stehen wir mit unserem Unternehmen Peerox in intensivem Austausch mit Fraunhofer IVV sowie mit anderen Instituten und diese Zusammenarbeit ist sehr wichtig.

Mein ehemaliger Gruppenleiter hatte zuvor ein eigenes Unternehmen gegründet, da dachte ich zum ersten Mal über diese Option nach. Das AHEAD-Programm bereitete mich mental auf den Gründungsprozess vor. Zudem lernte ich dabei zahlreiche spannende Gründerinnen und Gründer von anderen Instituten kennen, mit denen ich auch heute noch im Kontakt stehe.

Wie bewerten Sie  die Möglichkeiten einer Ausgründung bei Fraunhofer?

Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bietet Fraunhofer viele Möglichkeiten. Man kann auf hochaktuellem Stand technologische Entwicklungen und nahe an den Bedürfnissen der Industrie experimentieren. Man muss vor Industriepartnern pitchen, präsentieren und verkaufen, muss Gegenwind aushalten, kleinere Aufträge abarbeiten und man lernt den Umgang mit Finanzen. Aus meiner Erfahrung ist für Gründer Fraunhofer daher die bessere Karrierestufe als etwa die Gründung aus einer Universität heraus. Solche Jobs sind aber in der Regel nicht bis zur Rente ausgelegt, das ist eher »Überholspur«. Ich rate daher: Wenn du etwas Cooles voranbringen möchtest und eine Finanzierung haben willst, bekommst du das nicht bei einem großen Industrieunternehmen oder einem Mittelständler. Das bekommst du bei Fraunhofer!

Was könnte besser laufen?

Personen, die eine eigene Idee verfolgen, sind überdurchschnittlich motiviert. Fraunhofer sollte daher Kräfte, die gründen wollen, aktiv unterstützen, Führungspersönlichkeiten und Mitarbeitende noch stärker zur Gründung ermutigen. Fraunhofer bietet mit spannenden Aufgaben bei gleichzeitiger maximaler Sicherheit optimale Rahmenbedingungen für einen Job bis zur Rente. Aus dieser Sicherheit heraus muss man plötzlich sehr unternehmerisch denken, sobald man Interessenten für eine Gründung vor sich hat. Erfolgreiche Ausgründungen können für Fraunhofer einen guten Return on Invest bedeuten, auch wenn nicht jedes Start-up ein Erfolg wird. Gleichzeitig kenne ich Projekte, die forschungsseitig abgeschlossen sind, aber nicht weiterverfolgt werden. Die Überführung in den Markt ist ein großer Schritt, nicht immer finden sich dafür geeignete Kandidaten. Mit Peerox beispielsweise benötigten wir rund drei Jahre, um ein vermarktbares Produkt zu bekommen.

Wie könnte man diese Risikobereitschaft erhöhen?

Klar ist, es muss am Ende Geld verdient werden. Dem hohen Potential einer Ausgründung stehen hohe Risiken gegenüber. Im Geschäftsmodell einer Dienstleistung kann ein Institut konstant und planbar Umsätze generieren. Diese unterliegen jedoch gewissen Limitierungen, wie zum Beispiel dem Werbeverbot. Ich komme nochmals auf mein eigenes Projekt zurück: Mit den Rahmenbedingungen von Fraunhofer als öffentlich geförderter, gemeinnütziger Verein hätten wir das Wachstum nicht erreicht. Ich kann heute Verträge unterschreiben, die ich bei Fraunhofer – aus gutem Grund – niemals hätte unterzeichnen dürfen. Diese Möglichkeiten und Freiheiten haben in unserem Fall zu Wachstum geführt, von dem jetzt auch Fraunhofer profitiert.

Und hier komme ich wieder zu meinen Punkt von vorhin: Wenn Fraunhofer sich stärker als Organisation etablieren würde, bei der nicht nur das technologische Handwerk erlernt, sondern auch das kaufmännische »Drumherum«, wäre das für viele kluge und engagierte Köpfe sicherlich sehr attraktiv. »Du willst gründen? Dann komm zu uns, wir zeigen dir wie es geht!« Mit so einem Anspruch hätte Fraunhofer sicherlich Erfolg. Aber ich sage auch: Es muss nicht zwangsläufig die Gründung sein. Eine Station bei Fraunhofer macht auch den Einstieg bei einem Konzern oder Mittelständler einfacher.

Welches persönliches Risiko sind Sie bei der Gründung eingegangen?

Sicherheit ist natürlich ein Thema. Damit meine Familie nicht dafür geradestehen muss, wenn ich mich mit dem Unternehmen verkalkuliere, haben wir unsere Investments in das Unternehmen auf aktuelle Ersparnisse begrenzt. Wir hatten zudem das Glück von dem Exist-Förderprogramm des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz profitieren zu können. Dadurch besteht die Möglichkeit, neben der Forschung und Entwicklung am Institut ein Businessmodel zu erarbeiten, zu erproben und die Gründung vorzubereiten.

Gab es noch weitere Geldgeber?

Zu Beginn haben wir bewusst auf Investoren verzichtet. Uns war wichtig, dass wir mit Kunden arbeiten und in Kundenprojekten lernen. Inzwischen arbeiten wir mit zwei staatlichen Institutionen zusammen, klassisches Risikokapital nutzen wir jedoch nicht. Wir haben uns für das Bootstrap entschieden, wachsen also aus eigenen Mitteln und Umsätzen. Wir wollen uns nicht vorgeben lassen, in welche Richtung wir das Produkt entwickeln wollen. Ein VC hat häufig primär das Ziel, ein Unternehmen schnell groß werden zu lassen und dann mit Gewinn zu verkaufen. Wir denken anders über Unternehmen. Wir wollen mit Peerox auch in 20 Jahren noch mit einem großartigen Team und einem super Produkt am Markt sein. Dafür nehmen wir den vielleicht etwas langsameren Weg. Wir haben aber auch das Glück in einem Bereich zu sein, in dem das möglich ist.

Wie kam es eigentlich zu dieser Idee für das Unternehmen, das sie zusammen mit dem IVV-Kollegen Markus Windisch gegründeten?

Nach meinem Maschinenbau-Studium und meiner Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Dresden, startete ich bei Fraunhofer und entwickelte Prozesstechnologien für Industriekunden, zuletzt als Leiter einer Gruppe. 2015 sollten wir bei einer Molkerei Probleme bei der Abfüllung von Joghurtbechern beheben. Unser Team suchte die ganze Nacht nach einer Lösung, bis die Schicht für Mitarbeiterin Susi begann. Die säuberte wortkarg mit der Fingerkuppe eine bestimmte Düse. Ich dachte sofort in technischen Lösungen. Da setzte meine Sinnkrise ein, als ich begriff, dass das Wissen dieser Mitarbeiterin nicht wirtschaftlich automatisierbar ist. Ich sprach die Mitarbeiterin an. Ihre Reaktion war, dass sie diesen Vorgang schon mehrfach gemeldet hätte. Mir wurde klar, dass das Problem kommunikativer und nicht technischer Natur war. Auf digitalen Plattformen finden wir Videos, wie sich beispielsweise Fehler von Waschmaschinen beheben lassen. Warum diese Form des klassischen Wissensmanagement bislang nicht auch in der Produktion sinnvoll eingesetzt wird, hat zahlreiche und vielschichtige Gründe.

Doch selbst mit einer vollständigen Datenbank lassen sich keine Probleme beheben, sofern die Begrifflichkeit nicht klar ist. Wissensmanagement-Systeme sind in der Regel schlagwortbasiert. Kennt man die Bezeichnung eines bestimmten Bauteils nicht, sucht man vergeblich nach einer Lösung. Das ist in der Produktion tatsächlich ein sehr großes Problem. An diesem Punkt setzen wir an: Auf Basis von Maschinendaten übernimmt die Software die Suche für den Menschen. Mit Hilfe von Machine-Learning-Algorithmen, erkennt die Software bestimmte Situationen und schlägt Lösungen vor. Aus den Reaktionen lernt das System sukzessive die richtigen Vorschläge.

Wie kommt diese Idee an?

Gebe ich mein Wissen in eine Datenbank ein, werde ich schließlich nicht mehr benötigt, war eine der häufigsten Rückmeldungen der Expertinnen und Experten in den Unternehmen. Andere Stimmen sahen darin ein Überwachungstool, andere wollten keine Digitalisierungsprojekte. Uns war klar, dass wir auch mit der besten Lösung keinen Erfolg haben werden, wenn wir die Mitarbeitenden nicht ins Boot holen. Zusammen mit Psychologen der TU Dresden ergründeten wir, wie ein Mensch tickt, was ihn antreibt, wovor er Angst hat und wann er sich manipuliert fühlt und integrierten diese Erkenntnisse in das Produkt.

Welche Maßnahmen werden dabei ergriffen?

Es gibt nicht den einen Kniff oder die eine Maßnahme, dafür sind Menschen zu kompliziert und zu unterschiedlich. Ich bringe gerne das Beispiel von einem Handwerker, der in einem Video erklärt, wie man eine Silikonfuge zieht. Ich kann mir auf diesen Weg eine Problemlösung erarbeiten, bin deswegen aber noch lange kein Handwerker. An dieser Stelle fungiert die Weitergabe von Wissen wie Werbung. Und so können auch auf unserer Plattform die eigenen Fähigkeiten unter Beweis gestellt werden. Häufig sind Facharbeiter von kleineren Eingriffen eher gelangweilt und wollen größere Projekte in Angriff nehmen. Durch die Nutzung der Software steigt also der »Wert« eines Mitarbeitenden.

Wie geht es weiter und was bedeutet die voranschreitende Automatisierung in der Industrie?

Wir haben in das Produkt investiert und es bei einigen Kunden erfolgreich pilotiert. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir in der Lage sind, den Einführungsprozess so zu standardisieren, dass wir auch eine größere Kundenzahl bedienen können und das Produkt auch in der Breite funktioniert. Wir sind aufgrund meiner IVV-Vergangenheit sehr stark im Verpackungsbereich vor allem in der Lebensmittel- und Pharmaziebranche tätig. Wir sagen aber grundsätzlich, dass unsere Software überall da eingesetzt werden kann, wo Maschinendaten verfügbar sind und es nicht egal ist, welcher Mitarbeitende vor der Maschinesteht. Es gibt hochautomatisierte Prozesse, in denen der Faktor Mensch keine Auswirkungen mehr auf die Qualität hat. Diese werden in aller Regel nicht wirtschaftlich erreicht. Die Entwicklung schreitet voran, und man benötigt für den Betrieb weniger Menschen. Gleichzeitig steigt auch die Komplexität der Bedienung der Maschinen. Fabrikhallen, in denen es keine Lampen mehr gibt, weil keine Menschen darin arbeiten, sehe ich nur in Einzelfällen. In den meisten Branchen werden immer Menschen benötigt werden.

Wir danken für das Gespräch, Herr Schult.