90 Prozent der Fläche in Deutschland sind laut Bundesregierung ländlich geprägt. Etwa 44 Millionen Menschen leben auf dem Land, das sind mehr als die Hälfte der Einwohner. Dies gilt für ganz Europa: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt nicht in urbanen Zentren. Ruhe, Natur, bezahlbare Mieten – das sind die Vorteile des Landlebens. Doch die Idylle hat auch ihre Schattenseiten, wie die mangelhafte Energieversorgungsinfrastruktur, deren Ausbau in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigt wurde. Mitunter werden ländliche Regionen in Europa nur über eine einzige Leitung mit Strom versorgt, Netze sind veraltet. Der gestiegene Stromverbrauch kommt erschwerend hinzu. In der Folge kann es immer wieder zu Versorgungsengpässen kommen.
Für eine sichere, zuverlässige, kostengünstige und zugleich ökologische Stromversorgung auf dem Land setzen sich die Partner im Projekt RIGRID ein, kurz für Rural Intelligent Grid. Sie sehen die Zukunft in dem Ausbau regenerativer Energie und dem Aufbau dezentraler, intelligenter Versorgungsnetze – sogenannter Smart Grids –, die die Integration kleiner Energieerzeuger in das Versorgungsnetz und eine größere Unabhängigkeit von zentralen Energieversorgungsstrukturen ermöglichen. Im Projekt RIGRD wurde ein solches regionales, intelligentes Energieversorgungsnetz und -managementsystem entwickelt und in der polnischen Stadt Puńsk sowie in der Kommune Dardesheim im Harz in Sachsen-Anhalt beispielhaft erprobt. Mit diesem neuen Werkzeug lassen sich neue Energieinfrastrukturen und -versorgungssysteme im ländlichen Raum optimal planen, etablieren und betreiben. Partner im abgeschlossenen Vorhaben waren neben dem Fraunhofer IFF der Harz-Regenerativ-Druiberg e.V. und die RegenerativKraftwerke Harz RKWH GmbH.
Versorgungssicherheit in ländlichen Regionen
»Smart Grids helfen unter anderem, die schwankende Lieferung von Strom aus regenerativen Quellen zu koordinieren«, sagt Prof. Przemyslaw Komarnicki, Wissenschaftler am Fraunhofer IFF und Leiter der Abteilung Elektrische Energiesysteme und Infrastrukturen ESI. Gemeinsam mit seinem Team hat er als Projektkoordinator das virtuell-interaktive Energie-Infrastruktur-Design-Tool entwickelt. Für das Pilot-Microgrid in Puńsk haben die Forschenden vor Ort ein kleines Demonstrationsnetz aufgebaut, das die örtliche Kläranlage, eine Photovoltaikanlage sowie ein Batteriespeichersystem umfasst. Mit ihm konnten sie live testen, wie ihr System funktioniert und ob bzw. wie es von der Bevölkerung angenommen wird.
Das bedienerfreundliche Planungstool übernimmt die 3D-Raumdaten der betroffenen Gebiete samt Gebäuden und überträgt sie in ein virtuelles Szenario. Mit ihm sollen die Betreiber und Bewohner vor Ort interaktiv und individuell ihr Energieversorgungssystem und die dafür notwenige Infrastruktur planen. »Konkret könnten die Nutzer die Kosten, den CO2-Fußabdruck und die Abhängigkeit vom öffentlichen Versorgungsnetz berechnen und anzeigen lassen, wenn beispielsweise auf jedem Dach der Stadt Puńsk eine PV-Anlage installiert werden würde. Natürlich sind auch beliebige andere Modellberechnungen denkbar«, erläutert der Ingenieur ein Anwendungsszenario. Wie würden sich zusätzliche Windkraftanlagen auf die Versorgungslage auswirken, welche Konsequenzen hätte der Ausbau von Elektromobilität für den öffentlichen Nahverkehr? All diese Aspekte lassen sich einbeziehen. Dabei berücksichtigt die Software nicht nur technische und ökonomische, sondern auch sozioökonomische Faktoren sowie Umwelt- und Stadtplanungsaspekte. »Wie viele Arbeitsplätze können durch nachhaltige Energieversorgungssysteme in einer kleinen Gemeinde entstehen? Wie sieht unsere Stadt/Gemeinde danach aus bzw. akzeptieren wir die baulichen Veränderungen, etwa durch neue Windkraftanlagen? Auch solche Fragen beantwortet unser Planungstool«, erläutert Komarnicki das Alleinstellungsmerkmal der Plattform. Wichtig sei, dass die regionalen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten vor Ort in die Planung und Umsetzung einbezogen würden. Nur so könne der Energietransformationsprozess gelingen. In Puńsk gelang dieser Prozess: Nicht nur die Energieeffizienz konnte gesteigert und die CO2-Emission gesenkt werden. Auch die Bewohner hat das System nach anfänglicher Skepsis überzeugt.