L eben wir in einer Zeit der Gegen- aufklärung, wie mancher meint? Wer die Störungen der Lehre an Hochschulen oder die persönliche Kritik an Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlern im Netz verfolgt, kann zu diesem Schluss kommen. Egal, ob es dabei um Fragen der biologischen Bestimmtheit der Geschlech- ter geht, um die genetische Veränderung von Nutzpflanzen, den Klimawandel, die Corona- Pandemie oder jüngst auch um die Anfein- dungen Israels und der Juden nach dem Über- fall der Hamas am 7. Oktober: Gerade dort, wo die freie Rede eigentlich die Grundlage des Wettstreits um das bessere Argument sein muss, sind zunehmend schrille Töne zu hören. Ein Rückfall in ideologische Denkmuster und determinierende Merkmale, finde ich. Nicht der Aufbruch in eine bessere, freiere Zukunft, in der wir anderen vorurteilsfrei begegnen. Kein Kind unserer Zeit, und doch bedrohlich Das Phänomen diskursiver Störungen ist nicht neu. Ich erinnere mich gut an die Siebzi- gerjahre, in denen ich Geisteswissenschaften studierte. Die Industrie galt unisono als ver- dächtig, nicht nur die Ausbeutung der Ärms- ten zu forcieren (anstatt Wohlstand für viele), sondern für die gesellschaftlich erstmals breit thematisierten Umweltschäden verantwort- lich zu sein. Seveso war überall. Umso frappierender erscheint es mir, dass wir heute – drei Jahrzehnte nach dem so be- zeichneten Ende der Geschichte und im Besitz vielfältiger Informationsmöglichkeiten – Ge- fahr laufen, in ein neues Zeitalter des irratio- nalen, von Misstrauen gegenüber arrivierten wissenschaftlichen Quellen geprägten Zustands zurückzufallen. Die mediale Penetration noch so abwegiger Standpunkte führt dazu, dass sich die freie Rede Angriffen ausgesetzt sieht, denen man nicht mit den Mitteln des kon- struktiven Disputs beikommen kann. Fühlen ersetzt vielfach das Faktische. Und der arbeits- teilige, oft mühsame Prozess der Wissensbil- dung, wie er den Natur- und Geisteswissen- schaften gleichermaßen inhärent ist, wird von Populismus über Nacht infrage gestellt. Was also ist zu tun? Gewiss mehr, als es ein Gastbeitrag vom Spielfeldrand des Mittelstands aus auch nur ansatzweise zu formulieren ver- mag! Dass wir auf die Einhaltung der Standards der freien Rede gerade im akademischen Be- »Wir werden der Technik nicht entgehen, indem wir die Physik verlernen.« Max Bense, Philosoph, †1990 Dr. phil. Nicola Leibinger- Kammüller übernahm 2005 den Vorsitz der Geschäftsführung der Trumpf GmbH + Co. KG und ist seit 2022 Vorstandsvor- sitzende der aus der Trumpf GmbH + Co. KG hervorge- gangenen Trumpf SE + Co. KG mit mehr als 19 000 Mit- arbeitenden und einem Um- satz von 5,4 Milliarden Euro im Geschäftsjahr 2022/23. Trumpf ist ein international tätiges Familienunterneh- men mit mehr als 70 Stand- orten in Europa, Amerika und Asien. trat 1984 als Referentin für Öffentlichkeitsarbeit in die Maschinenfabrik Trumpf ein. studierte Germanistik und Anglistik an der Albert-Lud- wigs-Universität Freiburg, im Anschluss Germanistik, Anglistik und Japanologie an der Universität Zürich. ist Vizepräsidentin des Stif- terverbands für die Deutsche Wissenschaft, Senatsmitglied der Max-Planck-Gesellschaft, dazu des Hochschulrats der TU München. 3 | 24 reich pochen müssen, versteht sich von selbst. Dass wir als deutsche Industrie nur dann eine Chance auf dem zunehmend unbequemen Welt- markt haben, wenn wir auch über die Grenzen des politisch Erwünschten nachdenken dürfen – sei es in Fragen der Biologie oder auch der Antriebs- und Energietechnologien, die derzeit bei uns vielleicht unter keinem günstigen Stern stehen, aber im Ausland nachgefragt werden: Auch das versteht sich von selbst. Am Anfang aller Gedanken scheint mir darum das Nachdenken darüber zu stehen, ob wir wieder vertrauen lernen müssen. Ver- trauen in ein wissenschaftliches Expertentum, das nur sich selbst und nicht einer politischen Linie verpflichtet ist. Vertrauen in Institutio- nen. Vertrauen in Informationen, die geprüft und im besten Sinne gefiltert wurden. Wer öffentlich darüber nachsinnt, ob Deutschland als Industriestandort einen ideo- logischen Irrweg in der Energiepolitik bestrei- tet, oder sich ohne jede Not von wichtigen Ex- portpfaden der automobilen Zukunft verab- schiedet, darf nicht zum »Skeptiker« (oder gar Häretiker) erklärt werden, sondern ist eine berechtigte Stimme neben anderen. Die Welt orientiert sich nicht an uns Wir werden die Dinge nicht dadurch auf- halten, dass wir uns einreden, die Techno- logien der Zukunft vorgeben zu können. Die Welt kümmert sich nur bedingt – und meiner Wahrnehmung nach: immer weniger – um die Prioritäten, die hierzulande gesetzt werden. Selbst wenn der demokratische Prozess in Deutschland darum den einen oder anderen Weg anders als unsere Konkurrenten in Asien oder Amerika beschreiten mag: Wissenschaft bedeutet für mich im Kern auch, eine Frage- stellung um ihrer selbst willen zu verfolgen. Und unabhängig von der praktischen Umset- zung sprechfähig zu bleiben, die Optionen geistig stets zu erweitern, anstatt sie zu limi- tieren, keinen Denkverboten zu unterliegen – und diese Freiheit auch dem anderen zuzu- billigen. Ein demokratisches Grundprinzip. Gerade Bildung und Sprache, die sich auf Toleranz und die Fähigkeit zuzuhören grün- den, sind Ausdruck unserer Persönlichkeit. Denn wie der Naturwissenschaftler und Phi- losoph Max Bense einmal formulierte: Wir werden der Technik nicht entgehen, indem wir die Physik verlernen. Und Exzellenz gedeiht nur in einem Klima geistiger Freiheit. 29 f p m u r T / r e l l ü M a n e r e V : o t o F