D er Patient klagt über Müdig- keit, Appetitlosigkeit, Bauch- schmerzen. Könnte ein Ma- gen-Darm-Infekt sein oder eine Gastritis – vielleicht aber auch Morbus Wilson. Die genetisch bedingte, lebensbe- drohliche Stoffwechselstörung gehört zu den rund 6000 sogenannten »Seltenen Er- krankungen«, die bisher weltweit gelistet sind. Sie alle haben gemein, dass ihre Symp- tomatik meistens unspezifisch ist. Sechs Jahre vergehen daher durchschnittlich, bis die richtige Diagnose gestellt wird – zu lange, finden Dr. Andreas Jedlitschka und Patricia Kelbert vom Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE. In Kooperation mit den Unikliniken Frankfurt am Main und Dresden arbeiten sie an dem KI-basierten Portal SATURN, das Ärztinnen und Ärzte zukünftig bei der Diagnosestellung unterstützen soll. In der EU gilt eine Erkrankung als »sel- ten«, wenn sie nicht mehr als einen von 2000 Menschen betrifft, entsprechend dünn ist die Datenlage. Jedlitschka: »Wir kombinieren daher unterschiedliche KI- Verfahren, um zum besten Ergebnis, also zur wahrscheinlichsten Diagnose, zu kom- men.« Das sogenannte »fallbasierte Schlie- ßen« vergleicht den aktuellen Fall mit den klinischen Daten anderer und zieht auf- grund von Ähnlichkeiten Rückschlüsse. Der »regelbasierte Ansatz« extrahiert aus medizinischen Leitlinien und Interviews mit Expertinnen und Experten Grundsät- ze, die zur Diagnosefindung genutzt wer- den. Mithilfe verschiedener Verfahren des maschinellen Lernens will das Forschungs- team schließlich in klinischen Falldaten charakteristische Krankheitsmerkmale und -muster identifizieren. Tools zur Diagnose von Seltenen Erkran- kungen gibt es bereits auf dem Markt. Häufig liegen sie jedoch daneben, weil sie sich in der Regel nur auf wenige Daten und ein einziges KI-Verfahren stützen. »Wie gesichert die Diagnose ist oder wie sie zustande kommt, ist selten transparent«, kritisiert Jedlitschka, der am Fraunhofer IESE den Bereich Data Science leitet. So schürten sie unnötig Ängste bei Patien- tinnen und Patienten. Viele wüssten nicht, dass es sich lediglich um Wahrscheinlich- keitswerte handele. »Die können manch- mal bei nur 30 Prozent oder darunter liegen«, warnt Jedlitschka. Die KI sei oft ausschließlich mit Daten zu Seltenen Er- krankungen trainiert, daher liefere sie im Ergebnis immer eine entsprechende Diag- nose – auch wenn die Patientin zu 95 Pro- zent an einem grippalen Infekt leide. Den meisten Userinnen und Usern von Diag- nose-Apps sei das nicht bewusst. SATURN soll deshalb ausschließlich Ärztinnen und Ärzten zur Abklärung eines Verdachtsfalls In der EU gilt eine Erkrankung als »selten«, wenn sie nicht mehr als einen von 2000 Menschen betrifft. zur Verfügung gestellt werden, die die Er- gebnisse richtig einordnen könnten. Zu- dem ist eine Anbindung an den »SE-Atlas« geplant – eine Online-Informationsplatt- form der Universität Frankfurt, in dem medizinische Zentren für Seltene Erkran- kungen, Spezialistinnen und Spezialisten sowie zahlreiche Tipps zu finden sind. Eine erste Testversion von SATURN existiert bereits. Sie basiert auf Patienten- daten von rund 20 Krankheitsbildern, die die Kooperationspartner in strukturierter und anonymisierter Form zur Verfügung stellen, sowie auf medizinischer Fachlite- ratur. »Zurzeit interviewen wir Fachärz- tinnen und Fachärzte, um ihr Spezial- und Erfahrungswissen ebenfalls in unsere KI- Modelle zu integrieren«, erklärt Bioinfor- matikerin Kelbert. Ziel sei es, dem Haus- arzt, der für die meisten Betroffenen die erste Anlaufstelle ist, eine konkrete Hilfe- stellung an die Hand zu geben: Welche 2 | 24 Fragen sollte er stellen, um eine Verdachts- diagnose zu erhärten oder auszuschließen? Worauf sollte er besonders achten? Kelbert ist überzeugt: »Wenn wir vorher besser fil- tern, können wir auch die Fachpraxen deut- lich entlasten, an die Patientinnen und Patienten zur weiteren Abklärung meistens überwiesen werden.« Um die Entscheidung der KI möglichst transparent und nachvollziehbar zu ma- chen, wird im Portal angezeigt, zu wie viel Prozent die Diagnose gesichert ist und auf welchen Daten und Quellen das Urteil beruht. Kelbert: »Das System meldet also beispielsweise, die Angaben passen zu 80 Prozent zu Morbus Wilson. Die Symptome sind größtenteils in der Behandlungsleitli- nie aufgelistet, wir haben einige vergleich- bare Fälle und auch die Experten-Inter- views untermauern den Verdacht. Aber es fehlen noch die Symptome X und Y.« Um die KI-Modelle weiter verbessern zu können, sind mehr Trainingsdaten not- wendig. Gerade im Bereich der Seltenen Erkrankungen, wo insgesamt nur wenige Daten vorliegen, wäre es wichtig, diese weltweit zu sammeln und auszuwerten, um die Versorgungsqualität zu erhöhen. Einen ersten Schritt in diese Richtung hat die Europäische Kommission vor fünf Jah- ren bereits getan. Die »European Platform on Rare Disease Registration« soll den Aus- tausch von Daten zu Diagnose, Behand- lungsverläufen und Versorgung von Pa- tientinnen und Patienten mit Seltenen Erkrankungen ermöglichen, die bisher in Hunderten Registern verteilt sind – aller- dings unter Wahrung der strengen EU- Datenschutz-Regeln. »Leider ist es für For- schungsprojekte sehr kompliziert, an diese Daten heranzukommen«, bedauert Kelbert. Die Betroffenen-Gruppen, mit denen die Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftler im Austausch sind, würden ihre Daten gerne zur Verfügung stellen, um so anderen ihre lange Leidensgeschich- te zu ersparen. Jedlitschka: »Ich hoffe, dass wir in Deutschland einen Weg finden, me- dizinische Forschung mit Gesundheits- daten zu vereinfachen.« Er ist überzeugt: »Das Potenzial ist riesig.« zurück zu Seite 1 51 i l e r u t c i p n a p / r e n r o D + z t i b u L : o t o F