M orgens zwischen 7 und 8 le- ben Kinder in Deutschland gefährlich. Diese Stunde ist, so sagt es die Statistik, die gefährlichste des Tages. Vor allem, wenn der so neblig und nasskalt beginnt wie an diesem Wintermorgen im sächsischen Hartha. Die Schülerinnen und Schüler, die hier zum Martin-Luther-Gymnasi- um streben, tragen meist dunkle Parkas und blicken aus fellbesetzten Kapuzen wahlweise auf ihre Füße oder auf das Handy-Display. Andere radeln auf der Straße nebeneinander, gerne freihändig. In zweiter Reihe parken Autos; Türen wer- den unversehens aufgerissen und wieder zugeworfen. Ein kurzes Winken, schon brausen Vater oder Mutter davon. Haben sie zuvor über die Schulter und in den Sei- tenspiegel geschaut? Rund 22 000 Kinder zwischen 6 und 15 Jahren wurden 2021 im Straßenver- kehr verletzt. Die große Mehrheit verun- glückte in der Morgenstunde auf dem Weg zur Schule; weitere statistische Spitzen gab es um die Mittagszeit und zwischen 15 und 17 Uhr. Mit 38 Prozent waren die meisten der jungen Unfallopfer auf dem Rad unterwegs, 21 Prozent zu Fuß. Zahlen, die das mulmige Gefühl der Eltern statis- tisch untermauern, mit dem sie ihren Nachwuchs Richtung Schule verabschie- den: »Sei vorsichtig!« Die vergessene Altersgruppe Knapp 90 Kilometer von Hartha entfernt, im Fraunhofer-Institut für Verkehrs- und Infrastruktur IVI in Dresden, arbeiten drei Forschende daran, diese Unfallstatistik zum Besseren zu verändern. Die Zehn- bis 15-Jährigen seien »die vergessene Alters- gruppe«, sagt Unfallforscherin Maria Poh- le. »Radfahrende Jungen in diesem Alter haben das allerhöchste Risiko, im Stra- ßenverkehr zu verunglücken«, ergänzt Dr. Christian Erbsmehl, Gruppenleiter Fahr- zeug- und Verkehrssicherheit. Trotzdem legt die schulische Verkehrserziehung – nach diversen Programmen für Vor- und Grundschüler sowie Fünftklässler – aus- gerechnet bei den Teenagern eine Pause ein. Genau in der Phase, in der Jugend- liche zunehmend selbstständig unter- wegs sind. Hinzu kommt, dass in diesem v i h c r a s e d n u B / g r e b r e t n U f l o R , ) k r o w t e N e l y t s d l i W ( I V I r e f o h n u a r F : s o t o F Lebensabschnitt »das Gehirn wegen Um- bau geschlossen ist«, wie Verkehrspsycho- login Nora Strauzenberg scherzt: Pubertät ist, wenn der Fahrradhelm zum Problem- Accessoire wird und die rote Verkehrsam- pel zur Challenge. Die drei Wissenschaftler haben in ei- nem vom Bundesverkehrsministerium geförderten Projekt die Fraunhofer IVI Accident Prevention School (FAPS) ent- wickelt – einen speziell auf Jugendliche ausgerichteten Präventionskurs, der durch echte Unfalldaten aus dem Schulumfeld der Kinder und den Einsatz neuer Tech- nologien nachhaltig wirksame Aha-Erleb- nisse provozieren soll. »FAPS«, erklärt Erbsmehl, »will nicht belehren, sondern überzeugen.« 2017 mit dem Deutschen Mobilitätspreis des Bundesverkehrsmi- nisteriums ausgezeichnet, wird FAPS der- zeit sachsenweit unter anderem vom Ko- operationspartner ADAC Sachsen in den 8. und 9. Klassen durchgeführt. »Unsere Methode will nicht belehren, sondern überzeugen.« Dr. Christian Erbsmehl, Unfallforscher am Fraunhofer IVI 1 | 23 schen sieben und zehn. Alles easy, kein Problem? Auf den Straßen gilt das Recht des Stärkeren Auch das nächste Modul findet auf dem Papier statt: In Kleingruppen sollen die Schülerinnen und Schüler Grafiken de- chiffrieren, in denen es um Rad- und Fuß- gängerunfälle geht: Wer waren die Betei- ligten, wer die Unfallverursacher – und wer hat welche Schäden davongetragen? Während eine Gruppe nach der anderen ihre Analyse vorträgt, kristallisiert sich jene Erkenntnis heraus, die FAPS-Mitbe- gründer Christian Erbsmehl als eine der Kernbotschaften des Programms bezeich- net: Rad- oder Fußgänger sind bei gut der Hälfte der Unfälle nicht die Verursacher. Doch in nahezu 100 Prozent der Fälle sind sie es, die verletzt oder gar getötet wer- den. In der Verkehrserziehung gehe es bislang »zu sehr darum, was ich richtig mache – und nicht, was mich schädigen kann«, findet Verkehrspsychologin Nora Strauzenberg. FAPS hingegen will genau dafür sensibilisieren: Dass man sich auch dann nicht sicher fühlen darf, wenn man die Straßenverkehrsordnung einhält. Was auf der Straße zählt, ist letztendlich das Recht des Stärkeren, oder zumindest das Recht des Größeren: Lkw gegen Fahr- rad, Auto gegen Fußgänger, Erwachsener gegen Kind. Die Unfalldaten, auf die FAPS aufbaut, basieren auf Datensätzen der polizeilichen Software EUSKa (Elektronische Unfall- steckkarte), die eine Auswertung »Für wie sicher haltet ihr euren täg- lichen Schulweg?« Das will Michael Prel- ler, Verkehrserzieher des ADAC Sachsen, jetzt von den Achtklässlern des Martin- Luther-Gymnasiums in Hartha wissen. Einhelliger Tenor in der Klasse: alles easy, kein Problem. Anschließend lässt Preller die Jugendlichen auf einer Straßenkarte ihren Schulweg einzeichnen. An vielen Kreuzungen in Hartha sind rote und grü- ne Punkte zu sehen. Sie stehen für Rad- und Fußgängerunfälle, die dort passiert sind – je größer der Punkt, desto mehr Ver- kehrstragödien. Anschließend zählen die Kinder die unfallgefährdeten Stellen ent- lang ihres Schulwegs. Meist sind es zwi- 22 000 Kinder zwischen 6 und 15 Jahren wurden 2021 im Straßenverkehr verletzt, die meisten davon auf dem morgendlichen Weg zur Schule. 25