Neuropathische Schmerzen entstehen durch Schädigungen oder Erkrankungen des Nervensystems. Patienten klagen häufig über Pelzigkeit oder Taubheit in den peripheren Körperregionen. Mögliche Symptome sind aber auch Sensibilitätsstörungen, Ameisenlaufen, brennende Schmerzen, eingeschränktes Temperatur- und Schmerzempfinden sowie Gleichgewichtsprobleme. Die Liste der Beschwerden ist lang. Zunächst äußern sie sich an den Fuß- und Fingerspitzen und gehen mit der Zurückbildung der Nervenfasern einher. Ist erst einmal der ganze Fuß erfasst, kommt es zu Gehstörungen. Betroffen sind oftmals Diabetiker, die Erkrankung zeigt sich jedoch auch als Folgeerscheinung nach Chemotherapien, Dialysen, Infektionen, übermäßigem Alkoholkonsum oder bei Autoimmunerkrankungen.
Nervenfaserschädigung bislang nur schwer einschätzbar
Die Wirksamkeit von Therapien ist bei einem fortgeschrittenen Krankheitsverlauf stark eingeschränkt. Medikamente wirken am besten, wenn sie in einem frühen Stadium eingenommen werden, die Nervenfasern noch nicht stark zurückgebildet sind. Daher ist eine Frühdiagnose essenziell. Das Problem: Es fehlt an aussagekräftigen Methoden, die die Ausprägung und den Schweregrad der Neuropathie einschätzbar machen. Bisherige Verfahren eignen sich nur bedingt: Bei der Messung der Nervenleitungsgeschwindigkeit ist keine klare Diagnose möglich. Ist die Reizübertragung verlangsamt, kann eine Neuropathie vorliegen, aber auch andere Indikationen kommen infrage. Die Stanzbiopsie wiederum, bei der der Arzt Gewebe aus der Haut entnimmt, ist für Patienten sehr schmerzhaft und die Hautstelle möglicherweise nicht repräsentativ. Alternativen zu den klassischen Diagnosevarianten sind daher dringend erforderlich. Mit der Untersuchung der Hornhaut wählen Forscherinnen und Forscher am Fraunhofer IME in Frankfurt einen neuen, innovativen Ansatz: »Die Nervenfaserdichte ist in der Cornea am höchsten. Die Hornhaut gibt ein repräsentatives Bild des peripheren Nervensystems wieder«, sagt PD Dr. Marco Sisignano, Wissenschaftler am Fraunhofer IME. Parameter wie Nervenfaserdichte und -länge, aber auch der Grad der Verzweigung lassen sich mikroskopisch über die Cornea erfassen. Stark verkürzte Fasern und geringe Verzweigungen etwa lassen Rückschlüsse auf drohende neuropathische Erkrankungen zu, noch bevor die Patienten über Beschwerden klagen.
Die Tränenflüssigkeit im Fokus
Dr. Sisignano und sein Team untersuchen speziell die Tränenflüssigkeit. Dabei arbeiten sie in Kooperation mit der renommierten Glaukomforscherin und Spezialistin für die Anatomie des Auges Prof. Dr. Elke Lütjen-Drecoll von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die untersucht, ob sich Immunzellen in der Tränendrüse ablösen und in den Tränenfilm einfließen.
»Die Cornea ist nicht durchblutet, sie ist jedoch von Tränenflüssigkeit umgeben. Wenn man also eine Rückbildung der Nervenfasern erkennen kann, muss sich etwas in der Tränenflüssigkeit befinden, das die Verkürzung bewirkt. Daher fokussieren wir uns auf den Tränenfilm und entnehmen diesen von Patienten mit Papierstreifen oder saugen ihn mit einer Kapillare auf und geben ihn für weitere Analysen in ein Probengefäß«, erläutert Sisignano.
Per Tandemmassenspektrometrie werden verschiedene Stoffe in der Flüssigkeit aufgetrennt und wird deren Konzentration bestimmt. Dabei analysiert das Team insbesondere Lipide. Erhöhte Lipidwerte in Kombination mit zurückgebildeten Nervenfasern sind Anzeichen für eine beginnende Nervenerkrankung. »Unser USP ist die Lipidanalytik. Die Lipide können im Prinzip die Funktion von Biomarkern haben«, so der Biologe. Mit ihrer neuen Messmethode haben die Forscher am IME Pionierarbeit geleistet. »Die Lipide in der Tranenflüssigkeit messen zu können, ist eine Herausforderung. Schließlich bekommen wir nur einen kleinen Tropfen von den Patienten.« Die Massenspektrometrie musste entsprechend angepasst und optimiert werden.
Derzeit führen die Projektpartner Tests mit 250 Patienten durch, die von verschiedensten Neuropathien betroffen sind. Nach Abschluss der einzelnen Untersuchungsmodule wie dem Erstellen sensorischer Profile, der cornealen Mikroskopie, der Testung von Tränenproben und der Lipidmessung werden die Ergebnisse gebündelt ausgewertet und korreliert. Ziel ist es, für die diversen Patientengruppen mögliche Biomarker für die Inzidenz und den Schweregrad der Neuropathie ableiten zu können. »Letztendlich wollen wir dem Arzt eine Entscheidungshilfe an die Hand geben, ob und wann er eine Therapie beginnen soll«, sagt Sisignano.